Splitterfasernackt
vor lauter Gefühlen.
Ich weiß noch nicht, dass der Junge mit den braunen Augen und dem lieben Lächeln für die nächsten drei Jahre der wichtigste Teil meines Lebens sein wird; abgesehen von all dem anderen Zeug in meinem Kopf, das immer wichtiger sein wird als jede Wirklichkeit. Und ich weiß auch noch nicht, dass ich wunderschöne Tage haben werde und furchtbar einsame Tage. Denn welche Einsamkeit ist schlimmer als die neben einem Partner? Ich weiß noch nicht, dass meine Wohnung leer und verlassen sein wird, und wir zusammen bei ihm wohnen werden. Dafür weiß ich, dass Sex mit ihm schrecklich sein wird. Weil Sex immer schrecklich sein wird. Da hilft auch keine Liebe. Und noch eines weiß ich: Dass ich sogar mit einem Freund an meiner Seite alleine sein muss, denn wer kann schon tief genug in meine seelischen Abgründe blicken, um mir wirklich nah sein zu können.
In den ersten vier Monaten habe ich Angst davor, dass Fabian mich verlässt, weil es zu schön, um wahr zu sein, ist und weil ich gelernt habe, dass man alles verlieren muss, was man liebt.
Die Welt ist voll von schönen Dramen.
Aber Fabian verlässt mich nicht. Und dann verlasse ich ihn. Nach drei Jahren geteilter Schweigsamkeit setze ich mich neben ihn auf den Balkon und sage: »Fabian, ich …«
Dann schließe ich meinen Mund wieder und behalte den Rest für mich. Denn er weiß schon längst, was ich ihm sagen will. Er weiß es seit über einem Jahr.
»Ich liebe dich«, sagt Fabian schließlich. »Ich liebe dich so sehr.«
Aber draußen wartet ein Taxi auf mich.
4
D a bin ich wieder, zurück in meiner Wohnung, in der sich die unausgepackten Umzugskisten aneinanderreihen, obwohl ich mich schon vor über einem Monat von Fabian getrennt habe. Ich stehe im Badezimmer und probiere ein paar neue Masken aus. Das ist nicht schwer – ich konnte schon immer die gewagtesten Grimassen aufsetzen, das überzeugendste Lächeln im Gesicht tragen, Aufmerksamkeit fälschen und im richtigen Augenblick losweinen, aber mit der Zeit bin ich zum absoluten Vollprofi darin geworden. Es gibt tatsächlich Menschen, die mich für jemanden halten, der ich überhaupt nicht bin, so dass ich mich allmählich schon frage, ob ich, wenn ich lange genug die gleichen Lügen erzähle, irgendwann damit die Wahrheit verändere.
Manchmal bin ich zu müde, dann schaffe ich es kaum, mich an meinen Text zu halten, ohne mich ständig zu versprechen, oder ich erwische mich dabei, wie ich die Wörter überzogen betone. Aber immerhin wirke ich normal genug, um einen Beruf zu finden – ich fange mehr oder weniger zufällig an, in einem Kinderladen zu arbeiten, und mein halbverhungertes Gehirn stellt überrascht fest, dass ich etwas gefunden habe, das ich wirklich gut kann, auch ohne Abitur und ohne Studium. Glücklicherweise sehen ein Haufen Eltern und Kinder das genauso, und deshalb kann ich mir nach zwei Jahren mein eigenes kleines Kindergeschäft aufbauen. Ich gebe Bastel-, Koch- und Backkurse und arbeite nebenbei mit Kindern aus Pflegefamilien, die mindestens genauso viele Krisen haben wie ich. Außerdem schmeiße ich die angesagtesten Kindergeburtstage, übernehme auf Hochzeiten die Kinderbetreuung, schaffe es, einen Raum voll mit Kindern unterschiedlichster Altersgruppen in Windeseile zum Schlafen zu bringen, helfe bei Vorschulaufgaben, probe Kindertheaterstücke ein und singe Dornröschenlieder bis zum Stimmversagen.
Aber obwohl das bunte Leben um mich herumtobt, obwohl die Schönheit eines Augenblicks mir jeden Tag aufs Neue eine Geschichte erzählt – ich fühle, wie meine Seele splitterfasernackt vor mir liegt. Und ich weiß nicht, wie ich sie bedecken kann.
Mein Geheimrezept, um trotzdem nicht durchzudrehen, ist simpel: Ich schaffe mir ein neues Problem, das groß und schrecklich genug ist, um an erste Stelle zu stehen, und beschäftige mich in jeder freien Minute, in der andere schlimme Dinge meine Seele plagen könnten, nur damit: Nichtessen. Essen. Erbrechen. Verhungern.
Das macht unglaublich viel Spaß.
Es ist die reine Absolution, wenn man erst einmal erkannt hat, wie viel Zeit man auf einer Waage verbringen kann, ohne dabei an Vergewaltigung auch nur zu denken. Außerdem habe ich noch nie von jemandem gehört, der auf einer Waage zum Sex gezwungen wurde. Eine Waage – mein sicherer Hafen.
Was für ein Geständnis.
Nach drei Jahren mit Fabian, in denen ich mich erfolgreich durch sämtliche Formen der Essstörung getestet habe, sitze ich nun also
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