Splitterfasernackt
zwischen all den Umzugskartons und knallbunten Kinderbildern, die ich tonnenweise geschenkt bekomme, und finde, dass ich mich endlich entscheiden sollte: Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa. Dieses ständige Hin und Her macht mich ganz nervös.
Ana und Mia – so nennen wir hungrigen Mädchen unsere Krankheit. Ana und Mia – das sind die beiden Stimmen in meinem Kopf, die sich um jeden noch so kleinen Kekskrümel streiten können, als ginge es um den Lauf der Welt. Und mittlerweile sind die zwei alles, worüber ich mich definieren kann.
Da mein Kühlschrank leer ist und meine Küchenschränke auch, verkaufe ich meine Seele an Ana. Ana bis zum Ende. Das ist ein Versprechen, das stumm besiegelt wird. Und so verzieht sich Mia in den hinteren Teil meines Gehirns, während Ana mit ihren streichholzdürren Armen um mich herumtanzt und tatsächlich glaubt, sie könne fliegen, wenn ihr BMI nur unter 16 bleibt.
Vier Wochen nach diesem Entschluss bin ich zu schwach, um überhaupt noch auf einer Waage stehen zu können. Die Arbeit mit den Kindern kostet mich die letzte Kraft, und ich habe ständig Angst, in Ohnmacht zu fallen.
Ich wiege 37 Kilo. So wenig ist das gar nicht, finde ich. Krank sein ist etwas anderes. Meine Mutter hingegen sieht mich an, als wäre ich schon zur Hälfte unter der Erde, und rast jedes Mal, wenn ich sie besuche, sofort in die Küche, um mir etwas zu essen zu kochen.
»Mama, ich bin pappsatt!«, sage ich. »Ich habe gerade ein Stück Erdbeertorte gegessen.«
Abgesehen von der Torte war das mit der Erdbeere nicht einmal gelogen.
»Du bist ein Knochengerüst ohne Körperbewusstsein!«, schreit meine Mutter und baut einen Turm aus Pfannkuchen vor mir auf.
»Ich mag keine Pfannkuchen«, sage ich.
»Doch, du magst Pfannkuchen!«, faucht meine Mutter.
Und sie muss es ja wissen.
Denn sie weiß alles.
Nur nicht die Wahrheit. Denn ich erinnere mich noch genau, wie grausam der Schmerz auf meiner Empfindung gewütet hat, damals, als ich sechs Jahre alt war und meine Mutter über den Mann, der mich immer und immer wieder vergewaltigt hat, gesagt hat: »Er ist so höflich und aufmerksam! Jedes Mal, wenn er mich mit Einkäufen im Treppenhaus trifft, trägt er mir die Tüten hoch. Ich hoffe wirklich, du wirst irgendwann auch einmal so ein Mensch, Lilly.«
Ich erinnere mich an diese Worte, und sie schneiden so tief in mein Innerstes, so gnadenlos bohrend, dass es noch heute wie ein Jahrhundertfeuer brennt. Die Flammen umzüngeln mich, sie schließen mich ein, sie schließen mich weg, sie lodern bedrohlich, sie lodern hoch hinaus. Ich sehe mich dastehen, so sprachlos, so zur Seite geschoben und so verloren wie nie zuvor. Ich versuche immer noch, dieses Gefühl zu begreifen, dieses absolute Nichts, dieses stumme Resignieren.
Aber alles, was ich daraus gelernt habe, ist zu schweigen.
Wenn ich eigentlich um Hilfe rufen müsste.
Ich wiege mich. Hundertmal am Tag. Ich nehme 200 Gramm zu und möchte sterben. Ich nehme 300 Gramm ab, und es ist nie genug. Ich trinke literweise Wasser. Mein Körper zittert. Meine Brüste sind längst verschwunden. Ich verhungere. Ich hungere. Ich habe keinen Hunger. Ich heiße Ana! Ich falle in Ohnmacht. Immer wieder. Alles ist schwarz. Ich taste meine Rippen ab, meine Hüftknochen. Meine Haut ist weiß, meine Fingerspitzen sind blau, meine Lippen sind blass, und meine Augen sind ausdruckslos und leer. Ich blicke in den Spiegel, einen winzigen Moment nur, dann wende ich mich ab.
Ich will hungern, bis in den Tod – obwohl ich nichts mehr möchte als endlich leben. Ich weiß: Das ist eine kaputte Satzinteraktion. Aber Anas Sprache ist schwer zu übersetzen, sie wird unverständlich, sobald man versucht, sie zu erklären.
Und deshalb verstehe ich mich selbst nicht. Ich hasse Essen, ich hasse meinen Körper. Ich will zart und zerbrechlich durch die Welt schweben, auf langen graziösen Beinen, ein Hauch von Nichts sein, wie ein Engel, mit weicher Porzellanhaut und keinem einzigen Makel. Ich will unantastbar, unverletzbar, unberührt und ungebrochen sein.
Sollen doch meine Eltern sagen: »O mein Gott, du bist viel zu dünn geworden. Du siehst schrecklich aus, du musst mehr essen. Deine Arme sind dürr wie Seidenfäden. Was ist nur passiert?!«
Sollen sie doch reden und reden und mir wütende Blicke zuwerfen. Es ist zu spät. Sie hatten ihre Chance.
Mit zwanzig Jahren muss ich beim Sex immer noch weinen. Totenstill und unbemerkt zwar, aber es kratzt an meiner
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