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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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stapeln sich Umzugskartons, mein blaues Sofa ist in Schutzfolie gewickelt, die Glühbirne über mir hängt einsam ohne Lampenschirm, und in der Küche summt der neue Kühlschrank, den ich gerade angeschlossen habe.
    Ich bin regungslos. Für eine lange Zeit.
    Ich bin am Anfang. Und am Ende.
    Die Minuten vergehen so eigenwillig, dass ich schon fast glaube, sie gehören gar nicht zu mir. Ich stehe zwischen meinem nackten Gehirn und den sorglosen Kisten. Die Stunden kippen um. Sie krachen auf meinen Fußboden und hinterlassen schwarze Löcher.
    Irgendwann setze ich mich auf mein Fensterbrett und überlege, ob ich mir für jeden Tag, den ich lebend hinter mich gebracht habe, einen Strich in den Unterarm ritzen sollte, nur so, aus Prinzip.
    Aber dann lasse ich es.
    Denn ich weiß nicht, in welchem der Umzugskartons die Rasierklingen sind.
     
    Mit siebzehn Jahren habe ich zum ersten Mal freiwillig Sex. Mit einem Jungen, nicht mit einem Mann. Ich bin schließlich weder bescheuert noch verzweifelt genug, um erwachsene Spiele auf meiner zersplitterten Seele zu treiben.
    Mein Freund heißt Tim. Ich mag ihn, er ist süß, seine kurzen blonden Haare stehen frech in alle Himmelsrichtungen ab. Aber Sex mit ihm ist schrecklich; denn ich bin sechs Jahre alt, und mein Körper ist winzig. Das weiß ich. Auch wenn es nicht mehr so ist.
    Nachdem er eingeschlafen ist, schließe ich mich im Badezimmer ein und ziehe meine Lebensbilanz. Sie ist voll von mir. Wer hätte das gedacht. Und unterm Strich bin ich sogar immer noch da. Was für eine Leistung. Dabei dachte ich doch, ich würde mit sechs Jahren sterben und mit neun Jahren auch. Und dann mit elf. Und mit zwölf. Und ganz besonders mit fünfzehn und noch mehr mit sechzehn. Und mit siebzehn sowieso. In den Jahren dazwischen natürlich auch.
    Aber kurz darauf werde ich achtzehn. Trotz und wegen allem.
    Kein Mensch wird mir je die Gezeiten der Menschheit erklären können – selbst wenn er alle Uhren der Welt besitzt.
    Meine Kindheit, meine Jugend, sie haben mich mit unschönen Stiften und verrosteten Klingen gebrandmarkt.
    Ich bin ein hässliches Stillleben.
    Ganz egal, wie laut ich werde.
    Also trenne ich mich von Tim – denn mein Schweigen ist kein Ort zum Teilen, und ich bin kein Mädchen zum Verlieben.
    Ich lache, ich weine, ich stehe an jedem Morgen auf und mache mein Bett. Ich putze mir die Zähne, ich sehe in den Spiegel, ich atme, ich hoffe, ich glaube, ich verzweifle, und dann zerre ich mich unnachgiebig durch den Tag.
    Die Zeit in der Klinik ist vergangen, genauso wie die Monate im Heim und die Jahre bei meinen Eltern. Also wird alles andere ebenfalls vergehen. Egal, was passiert, es findet sein Ende – zumindest das habe ich verstanden.
    Die Welt ist gar nicht so kompliziert: Man geht in die Schule. Man lernt etwas. Man macht sein Abitur. Und dann wird man erwachsen.
    Oder man macht es wie ich und kapituliert.
    Das geht am besten in Form eines Attests, das ohne großes Drumherum für sechs Monate die Schulunfähigkeit bescheinigt. Luxus pur. Ich bin frei. Das Abitur wird mich nicht in seine gebildeten Fänge kriegen und in eine studentenverseuchte Universität schleifen. Diesmal entkomme ich. Die nächsten Zeugnisse werden ohne mich mit Noten protzen. Und auch nach dem halben Jahr werde ich keinen Fuß mehr in eine Schule setzen. Komme, was wolle. Ich weiß nur noch nicht, wie ich das meinen Eltern beibringen soll.
     
    Ende Oktober brate ich mir eine Packung Fischstäbchen, weil ich mich in der Woche davor nur von fünf Äpfeln, drei Tomaten und zwei Teelöffeln Kirschmarmelade ernährt habe. Ich esse gerne Primzahlen, die kleiner sind als sieben, vor allem, wenn es um Erbsen und Weintrauben geht. Magersüchtige Mädchen können gut mit Zahlen umgehen, denn Zahlen bestimmen unser Leben, und Zahlen sind die einzige Sprache, die eine Waage spricht.
    Nachdem ich die Fischstäbchen vernichtet habe, gehe ich ins Bad und erbreche. Dann wasche ich mir mein Gesicht, ziehe mir einen weißen Minirock und ein hellblaues Top an, treffe mich mit einer Freundin, lächele sie mit meinem Standardlächeln an, tue so, als wäre ich wieder ganz normal, gehe mit ihr und ein paar anderen Freunden auf eine Party, tanze wie in Trance und verliebe mich.
    Liebe. Was weiß ich schon von Liebe. Nur so viel, dass ich mich davon fernhalten sollte, so gut es geht. Aber etwas wissen und etwas anwenden können sind manchmal zwei vollkommen verschiedene Gegebenheiten. Und ich bin schwach und verwirrt

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