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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Gedanken nicht? Warum hatte ich so gar keine Lust, bei mei­nen Freundinnen zu schlafen?
    Nun war ich nicht nur wütend auf den Umzug und all das, was damit verbunden war, sondern auch auf mich selbst. Stur stapfte ich im Marschschritt vorwärts und drehte die Musik so laut, dass sie gegen meine Schädelwände donnerte. Mein Nacken begann zu schmerzen; ein Schmerz, der sich langsam zur rechten Schläfe hoch­arbeitete und dort pulsierte. Weitergehen. Immer weitergehen.
    Ein winziges Insekt flog mir in die Augen und blieb am Rand mei­ner Kontaktlinse hängen. Ich schlug mir die Hand vors Gesicht. Blind schob ich die Linse hin und her und wischte dabei mit der Fingerspitze über meinen Augapfel. Jenny war es beinahe übel ge­worden, wenn ich das gemacht hatte, doch sie wusste nicht, was für höllische Schmerzen Fremdkörper unter einer harten Kontaktlinse auslösen konnten. Es war ein Gefühl, als würde eine spitze Nadel im Auge stecken.
    Beim zweiten Versuch erwischte ich die Mücke. Sie war in meinen Tränen ertrunken. Ich schnippte sie weg, doch das Brennen blieb und bildete zusammen mit dem Pochen in meiner Schläfe ein quä­lendes, aufreibendes Schmerzkonzert. Da half nur eines: die Augen geschlossen halten und warten, bis sich die Hornhaut wieder beru­higt hatte. Stehen bleiben wollte ich deshalb nicht. Ich lief blind weiter.
    Der Gedanke, bei diesem Experiment eine Böschung hinunter­zustürzen und mindestens ohnmächtig, wenn nicht sogar gelähmt oder halb tot im Wald liegen zu bleiben, störte mich wenig. Ich war noch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden, doch die Vor­stellung, wie es sein könnte, kam mir verlockend vor. Nicht mal mehr träumen ... tiefer als Schlaf...
    Ich weiß nicht, was genau mich zum Schreien brachte - ein laut­loses Schreien, da die Musik in meinen Ohren dröhnte, aber ich spürte in meiner Kehle, dass ich schrie. Es war zu viel auf einmal und zu schnell hintereinander: die kalte Hundeschnauze an mei­nem Knöchel, die kräftige Hand eines Mannes, der mich am Arm packte, damit ich nicht fiel, sein Zwiebelatem in meinem Gesicht und meine Nase an seinem Lodenwams.
    Taub starrte ich ihn an. Sein Mund formte ein stummes O und A. Ich riss mir die Stöpsel aus den Ohren und zog meinen Arm aus seinem festen Griff. Die Berührung war mir zuwider.
    »O-ha!«, machte er erneut und deutete mit seinem Spazierstock nach oben. Verständnislos blickte ich in das grüne Dickicht der Baumkronen über uns. Ich murmelte eine Entschuldigung. Was immer er auch meinte - eine Entschuldigung war nie verkehrt. Er lächelte breit und zeigte mir dabei eine Reihe fleckiger gelber Zähne. Sein Dackel hechelte hektisch. Mit blutunterlaufenen Augen schaute er mich beinahe flehend an. Sein Herrchen gab sich leutselig.
    »Wohin denn so eilig? Sie sollten umkehren! Bis zum nächsten Ort sind es noch einige Kilometer.«
    Er war blendend gelaunt und ich fand seine euphorische Stim­mung genauso unerträglich wie die meiner Eltern. Ich fand außer­dem, dass er mir gerade mal gar nichts zu sagen hatte.
    Er ließ seinen Blick gemächlich über meine Erscheinung gleiten und grinste noch ein wenig breiter. Sein schütteres Haar hatte er mit Pomade quer über die kahle Stirn geklebt, doch da wollte es nicht mehr bleiben. Der Wind richtete es steil auf, sodass eine Strähne steif wie eine Antenne in die Höhe ragte.
    »O-ha!«, rief er zum dritten Mal, diesmal so bedeutungsschwanger, dass ich nicht anders konnte, als wieder seinem Blick Richtung Himmel zu folgen. Die Sonne war verschwunden. Über den Baumwipfeln drohten gelblich braune Wolken und in der Ferne vibrierte ein Donnern - ganz anders als jene Unwetterboten, die ich von Köln kannte. In Köln kam das Donnern von oben, aus der Luft. Hier schien es sich durch den Untergrund zu ziehen und jedes kleinste Blatt zu durchdringen.
    Trotzdem. Das Gewitter war weit weg und kein Anlass für mich, seiner Aufforderung Folge zu leisten.
    »Kommen Sie lieber mit mir. Das ist zu gefährlich hier draußen. Es zieht eine Kaltfront heran«, ermunterte mich der Mann zur Flucht zu zweit.
    »Danke, ich muss weiter«, sagte ich knapp, drückte mich an ihm vorbei und verhedderte mich in einem Dornengeflecht, weil ich nicht ein weiteres Mal sein Wams berühren wollte.
    Ich muss weiter. Wie idiotisch. Ich hatte keine Ahnung, was in mich gefahren war, aber die Vorstellung, zwei Kilometer mit einem überfreundlichen Pensionär und seinem Hund auf einem schmalen Pfad durch den Wald

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