Splitterndes Glas - Kriminalroman
Spann sausen lassen, dass Daneburys Augen zu tränen begannen, und seitdem hatte er alle irrelevanten Bemerkungen für sich behalten.
Will saß hinter seinem Schreibtisch, stellte den Computer an, öffnete zunächst das Wählerverzeichnis, dann die Akten über die Gemeindesteuer, die im Rathaus geführt wurden: Der Hauseigentümer war ein gewisser Stephen Bryan. Stephen Makepeace Bryan, um genau zu sein.
Etwa fünfundvierzig Minuten später fand einer der Spurensicherer |16| in einem der Bücher im oberen Zimmer des Hauses einen rosa Bibliotheksausweis der British Library mit dem Namen ›Bryan, Mr S. M.‹, und Helen ließ ihn per Fahrradkurier in Wills Büro bringen. Das Gesicht auf dem kleinen quadratischen Foto glich dem des dunkelhaarigen Mannes auf der Fotografie, die Will zerrissen im Schlafzimmer gefunden hatte. Es mit dem Gesicht des Opfers zu vergleichen, würde nicht so einfach sein. Ohne Identifizierung durch einen Verwandten und in Ermangelung leicht erkennbarer körperlicher Merkmale – Narben, Muttermale oder Tätowierungen – konnten sie nicht hundertprozentig sicher sein, dass Bryan und der Ermordete ein und derselbe waren.
Ein Vergleich mit der DNA der Mutter des Toten oder ansonsten von Geschwistern würde vielleicht zu dem gewünschten Resultat führen, obwohl Will der Meinung war, dass der Zustand der Zähne der schnellste und beste Weg sein könnte, da die untere Hälfte des Gesichts nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen war wie der Rest. Eine rasch durchgeführte vorläufige Überprüfung der Zahnärzte in der Gegend wies Bryan jedoch nicht als deren Patienten aus, und das hieß, sie würden in größerer Entfernung suchen müssen.
All diese Bücher über Filme, dachte Will, Zeitschriften, DVDs – nur ein Hobby oder vielleicht mehr? Eine schnelle Suche bei Google verriet ihm, dass es mehr filmwissenschaftliche Kurse in der Gegend gab, als er für möglich gehalten hätte. Er hatte sich die Nummern der verschiedenen Institute notiert und begann zu telefonieren. Beim fünften Anruf wurde er fündig.
Im Herbst des vergangenen Jahres war Stephen Bryan an das Institut für Kommunikationswissenschaften an der Anglia Ruskin University berufen worden. Gegenwärtig |17| gab er Kurse zu folgenden Themen: britischer Film; Kultur und Klasse; Sexualität, Gender und Identität.
Nein, heute hatte er keinen Kurs.
Umso besser für die Studenten, dachte Will, dann verpassen sie keine Stunde ihrer lebenswichtigen Ausbildung. Außerdem können sie länger im Bett herumfläzen, die trüben Tassen.
Er rief die Verwaltungsleiterin an und erfuhr, dass Bryan Lehraufträge an der De Montfort University in Leicester gehabt hatte, bevor er auf diesen Posten berufen worden war. Ja, sagte die Frau mit dem angenehm nördlichen Dialekt, der überhaupt nicht nach East Anglia klang, sie glaube, Mr Bryan habe zuvor in Leicester gelebt. Was seine vorherige Adresse betreffe, nun, das sei eigentlich nicht das übliche Vorgehen der Universität, aber unter den Umständen, wenn sie zurückrufen könne …
Es dauerte nur zehn Minuten und Will kannte Bryans alte Adresse im Stadtteil Clarendon Park in Leicester und bald darauf den Namen des Zahnarztes, bei dem er Patient gewesen war. Oder nannte man das heutzutage Klient? Unerheblich. Eine Kopie der zahnärztlichen Aufzeichnungen von Stephen Bryan würde nachmittags in die Post gehen, bei garantierter Zustellung bis 9.00 Uhr am folgenden Tag.
Will stand von seinem Schreibtisch auf und streckte sich, überlegte, ob er sich am Automaten einen Kaffee holen sollte, verwarf den Gedanken, setzte sich wieder hin und griff zum Telefon.
»Wissen Sie zufällig«, fragte er die Verwaltungsleiterin, »ob Mr Bryan verheiratet war oder etwas in der Art?«
»O nein«, sagte die Frau mit einem Anflug von Lächeln in der Stimme, »ich halte es für ausgeschlossen, dass er etwas in der Art war.«
|18| »Also ist er schwul«, sagte Helen. »Das denkst du doch?«
Sie standen auf dem Parkplatz des Reviers neben Helens VW. Ein langer Tag ging zu Ende. Inzwischen leuchteten bei den meisten vorbeikommenden Wagen hell die Scheinwerfer. Der Mond zeichnete sich schwach wie ein Daumenabdruck am Himmel ab.
»Du nicht?«, sagte Will.
»Auf welcher Grundlage? Wegen einer einzigen Fotografie? Einer kleinen Andeutung am Telefon?«
»Als du ihn zuerst gesehen hast … die Leiche … da hast du das doch gedacht.«
»Ja.«
»Und warum?«
Helen zuckte die Achseln.
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