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Splitterwelten 01 - Zeichen

Splitterwelten 01 - Zeichen

Titel: Splitterwelten 01 - Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Furcht.
    Nicht nur, dass Schnee und immerwährende Kälte jene Welt überzogen, die am Rand der Polregion lag; nicht genug damit, dass sie von kriegerischen Barbaren bevölkert wurde und blutrünstige Bestien in ihren Eiswüsten lauerten; eine Schwester der Gilde war dort auch auf geheimnisvolle Weise verschwunden, und es oblag Kalliopes Meisterin Cedara, diesen unheimlichen Vorfall vor Ort zu untersuchen.
    So sehr Kalliope die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung einleuchtete, so sehr fragte sie sich, weshalb ausgerechnet ihre Meisterin damit betraut worden war. Gewiss, Cedara war eine Gildeschwester ersten Ranges, die die Windweihe schon vor langer Zeit empfangen hatte und dem Rat der numeratae angehörte. Aber sie war vor allem eine Levitatin und verfügte über keinerlei Erfahrung, was den Umgang mit derlei Vorfällen betraf; Kalliope war überzeugt davon, dass sich ein vom König bestellter Legat der Angelegenheit um vieles geschickter und wohl auch effektiver hätte annehmen können – und vor allem hätte sie selbst dann nicht die Sicherheit und Annehmlichkeit der Gildewelt verlassen müssen.
    Noch nicht, jedenfalls.
    Natürlich wäre der Tag des Aufbruchs ohnehin irgendwann gekommen, wenn Kalliope bereit gewesen wäre, sich der Herausforderung der levitatio zu stellen und sie als missa der Gilde auf eine andere Welt versetzt worden wäre. Aber ganz sicher wäre sie dann nicht bis in die Polregion gereist, in Gefilde, die im Grunde genommen jenseits aller Zivilisation lagen. Menschen und Animalen lebten dort zusammen, und die Geschicke wurden von roher Gewalt bestimmt. Was, bei Ayona, hatte die Erhabene Schwester nur dazu bewogen, Cedara dorthin zu entsenden? Und warum musste Kalliope ihrer Meisterin bis ans buchstäbliche Ende der Welt folgen?
    Nicht, dass Kalliope gezögert hätte, ihre Meisterin zu begleiten, doch die Aussicht, die lieblichen Hügel Etheras mit ihren grünenden Gärten und glitzernden Seen gegen die eisige Wildnis einer feindseligen und barbarischen Welt zu tauschen, ängstigte sie. Natürlich sagte sie sich, dass sie derlei Empfindungen nicht hegen durfte und dass es ihr eine Freude sein müsste, im Auftrag des Rates einen solch wichtigen Auftrag zu erfüllen, und natürlich hatte sie bislang niemandem von ihren Ängsten erzählt; doch in dem Widerstreit, den sich ihr Pflichtbewusstsein und ihre tatsächlichen Empfindungen lieferten, drohte ihre Furcht als Siegerin hervorzugehen, und das erschreckte Kalliope beinahe noch mehr als alles andere. Schlimmer noch, je länger sie in ihrer Kammer wach lag und über alles nachdachte, desto deutlicher spürte sie, wie sich ihre Angst in Panik verwandelte. Panik, die so heillos war, dass sich alles darin zu verlieren drohte. Wie ein Untier lauerte sie tief in ihrem Inneren, knurrend und die Zähne fletschend, bereit und willens, sie zu verschlingen …
    Furcht ist der natürliche Feind der Levitatin, zitierte sie in Gedanken den codex primarum , jenes Regelwerk, dem unterzuordnen jede Gildeschwester Etheras feierlich geschworen hatte, denn Furcht stört das innere Gleichgewicht. Das innere Gleichgewicht jedoch ist die unabdingbare Voraussetzung für das Erlangen der Reife …
    »Kalliope?«
    Ihr wurde bewusst, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Sie erschrak, denn es war nicht ihre Absicht gewesen, Prisca zu wecken. Erschrocken sah sie zu ihrer Zimmergenossin hinüber, die wach in ihrem Bett saß. Besorgnis war in ihren blassen, von wirrem rotem Haar umrahmten Zügen zu lesen.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.
    Kalliope nickte, doch zugleich stiegen ihr Tränen in die Augen, die im einfallenden Sternenlicht glänzten.
    »Du weinst«, stellte Prisca entsetzt fest.
    Kalliope antwortete nicht. Sie ärgerte sich über sich selbst und über ihre kindische Furcht und wischte die Tränen beiseite.
    »Ist es der Abschied?«, fragte Prisca so sanft und einfühlsam, dass es wehtat. Erneut blieb Kalliope eine Antwort schuldig, aber die Freundin fühlte auch so, dass sie gebraucht wurde. Kurz entschlossen verließ sie ihr Bett, huschte zu Kalliope und setzte sich zu ihr.
    Eine ganze Weile lang saßen sie schweigend nebeneinander, und es war fast wie damals, als sie im Alter von elf Zyklen ihre gemeinsame Lehrzeit begonnen hatten. Beide waren sie ihren Meisterinnen zur Obhut und Ausbildung anvertraut worden, und man hatte ihnen diese Kammer zugewiesen, die sie sich seither teilten – zusammen mit allem, was ihnen während der letzten

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