Splitterwelten 01 - Zeichen
bildete, das sich ins Innere eines riesigen Shantik-Baumes erstreckte. Palisaden und ein aus einem großen, senkrecht aufragenden Ast gearbeiteter Wachturm waren dem Eingangstor vorgelagert und bis vor wenigen Augenblicken noch von zwei gefährlich aussehenden und bis an die Zähne bewaffneten Echsenmännern bewacht worden.
»Fass mit an«, forderte Croy Kieron auf, während er den einen der beiden leblosen Körper packte und hinter die Palisadenwand zog, damit er nicht sofort gefunden würde. Erneut tat Kieron, was man ihm sagte, auch wenn es ihn Überwindung kostete. Von Grauen geschüttelt packte er den zweiten Echsenmann an den Klauen und zerrte ihn hinter seinem Kumpanen her. »Keine Sorge«, beschied ihm der Panthermensch und entblößte sein Raubtiergebiss zu einem breiten Grinsen, »der spürt nichts mehr.«
Kieron wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Sein Herz schlug noch immer wie wild, zudem war ihm so schlecht, dass er sich am liebstem übergeben hätte. Froh darüber, den Leichnam wieder loszuwerden, legte er ihn zu dem anderen in den Schutz der hölzernen Mauer. Dabei achtete er darauf, dass die Kettenrüstung des Toten kein verräterisches Geräusch verursachte.
»Gut so«, anerkannte der Panthermann und deutete am Wachturm empor, »und nun hinauf mit dir.«
»Do-do-dort hinauf?«, Kieron starrte ihn verständnislos an.
»Genau das. Du wirst die Gegend im Auge behalten. Wenn sich jemand nähert, schreist du.«
»Schreien?«
»Kannst du das nicht?«
»D-d-doch, ich … denke schon.«
»Gut.« Croy nickte. »Wenn du fliehst, werde ich dich finden und dir das Herz herausreißen«, versprach er dann ungerührt, »wenn du deine Sache gut machst, bist du anschließend frei.«
Frei!
Wie ein Wort hallte das Echo in Kierons Bewusstsein nach, auch wenn er keine rechte Vorstellung davon hatte, was es bedeutete. Die grünen Raubtieraugen blitzten, und ihm war klar, dass jedes weitere Zögern lebensbedrohend gewesen wäre. Hastig eilte er zur Leiter, kletterte daran empor und spähte vorsichtig über die von zugespitzten Palisaden gekrönte Brüstung. Der Panthermann hatte recht gehabt. Sowohl der von Feuerkürbissen beleuchtete Vorplatz als auch der breite Steg waren von oben gut zu erkennen. Falls sich jemand näherte, würde Kieron ihn schon von Weitem sehen.
Er wollte dem Pantheriden ein Zeichen geben, aber der war bereits auf dem Weg. Sein schwarzes Fell sorgte dafür, dass er mit den Schatten der Nacht verschmolz, während seine vergleichsweise kurzen, nach hinten gebogenen Beine ihn in großen Sprüngen zum Tor trugen. Kurzerhand machte er sich am Schloss zu schaffen, zu dem er – zu Kierons größter Verwunderung – den Schlüssel zu besitzen schien. Schon hatte er einen der schweren Flügel einen Spalt weit geöffnet und schlüpfte in das Bauwerk, das ins Innere des Baumes führte.
Wer, so fragte sich Kieron, war dieser Croy? Warum hatte er für ihn Partei ergriffen und ihn mitgenommen? Und was, zum Henker, hatte er in diesem Gebäude zu suchen? Was war so wichtig, dass er dafür sogar kaltblütig mordete?
Es war nicht das erste Mal, dass Kieron einen Leichnam gesehen hatte. Ein Leben – zumal das eines Menschen – war in Shantanpur nicht viel wert, und je tiefer man in die Stadt der Bäume hinabstieg, desto schlimmer wurde es. Hoch oben, wo die Shantikai ihre Äste in den Himmel reckten und die Drachenschiffe zu fernen Welten ablegten, residierten die Reichen und Mächtigen. Unter ihnen wohnten all die Händler und Handwerker, die in der Stadt ansässig waren, unterhalb von ihnen wiederum die Arbeiter, dann die Tagelöhner, die Diebe und Bettler. So ging es weiter hinab, bis zu jenen traurigen Gestalten, die im »Feuerkürbis« verkehrten. Und selbst sie standen im Ansehen noch weit über jenen, die in Shantanpur ohne Rechte waren, die in schmutzigen Löchern hausten und ein elendes Dasein als Sklaven fristeten …
Den Menschen.
Kieron war Sklave, solange er denken konnte.
Fast sein ganzes Leben lang hatte er Jago gehört, dem Chamäleoniden. Andere Welten kannte er wenn überhaupt nur, weil er Gäste im »Feuerkürbis« darüber sprechen hörte; und die majestätischen Drachenschiffe, die die Dschungelwelt täglich ansteuerten und verließen, waren für ihn nicht mehr als eine ferne Ahnung, auf die er bei seltenen Gelegenheiten einen flüchtigen Blick erheischte. Sein ganzes Leben lang war ein Tag gewesen wie der andere, nie hatte sich etwas Aufregendes ereignet – bis Croy
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