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Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung

Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung

Titel: Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Schneeweiß , Theodor Hellbruegge
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von Fähigkeitsausprägungen dient, bei Problemlagen die Ursachen aufdeckt und/oder Lösungswege erkennbar macht. Diagnostik kann dazu dienen Entwicklungen nosologisch abzuschätzen oder die Symptome in einem physiologischen System zu interpretieren, um daraus eine Diagnose oder Differenzialdiagnose abzuleiten. Nicht zuletzt bildet die Diagnostik die Grundlage für Legitimationen im Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen.
    Eine solche Ressource stellt das Heilmittel Sprachtherapie dar (HeilM-R GBA 2011). Etwa 56% aller sprachtherapeutischen Behandlungen kommen Kindern zugute. Dem Indikationsschlüssel SP1 der Heilmittelrichtlinien können derzeit (Schröder & Waltersbacher 2010) im Bereich der GKV etwa 200 Mio. Euro Ausgaben zugeordnet werden. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung bedeutet dies, dass jährlich etwa 1,5 Millionen Mal ein diagnostischer Prozess abläuft, bei dem eine Indikation zur Sprachtherapie bei Störungen der Sprache vor Abschluss der Sprachentwicklung feststellt wird. Neben der persönlichen Bedeutsamkeit für Betroffene macht die hohe Anzahl die gesellschaftliche Relevanz einer Reflexion dieses Prozesses deutlich.
    Im folgenden Beitrag wird dementsprechend dieser diagnostische Prozess erst theoretisch gefasst und dann im Spiegel praktischer Umsetzung anhand des Gegenstandsbereiches semantisch-lexikalischer Störungen betrachtet. Dabei werden Fragen professioneller Rollenverteilung und interdisziplinärer Kooperation erörtert, um letztlich eine Qualitätssicherung im diagnostischen Prozess zu erreichen.
Die Indikationsstellung
    Für eine Relevanzanalyse stellt sich die Frage, wer denn diesen diagnostischen Prozess ärztlicherseits gestaltet und Verordnungen ausstellt. Die Aufstellung des Heilmittelreports (Schröder & Waltersbacher 2010) weist als deutlich größte Verordnungsgruppe mit 42% aller Verordnungen die Kinderärzte aus (über alle Indikationsschlüssel hinweg). Würde nur die Verordnungspraxis für den Indikationsschlüssel SP1 betrachtet, läge der Anteil der Kinderärzte noch weitaus höher. Dabei werden wiederum 90% der Leistungen zum Indikationsschlüssel SP1 bei Kindern zwischen 5 und 10 Jahren ausgelöst. Damit kommt den Kinderärzten in der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen in dieser Altersgruppe eine Schlüsselstellung in der Verteilung der Heilmittelressourcen im Kindesalter zu.
    Verwunderlich ist allerdings der späte Verordnungsgipfel. Aktuelle Arbeiten zur Unterstützung der Sprachentwicklung bei sog. Late Talkers zeigen, dass frühere Intervention, evtl. indirekt über die Eltern, den Anteil therapiebedürftiger Kinder senken kann (Buschmann 2012). Auch wenn dieser Spitzenwert einerseits durch die veränderten Erwartungen von Eltern und pädagogischen Fachpersonen mit dem Eintritt in die Schule zusammenhängen dürfte und andererseits die Diagnosesicherheit in diesem Alter hoch ist, muss doch konstatiert werden, dass das relativ hohe Verordnungsalter eher auf eine kurative Strategie (»Reparaturstrategie«) verweist denn auf eine Präventionsstrategie.
Diagnostik als Entscheidungsprozess
    Betrachtet man das diagnostische Urteil als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, so sind mit Jäger (Jäger & Kubinger 2003) terminale von investigatorischen Entscheidungen zu unterscheiden. Während investigatorische Entscheidungen Zwischenschritte im mehrstufigen, diagnostischen Prozess darstellen, geht mit einer terminalen Entscheidung die Zuweisung zu einer längerfristigen Intervention einher. In der Verordnungspraxis wirkt das ärztliche Urteil der Indikationsstellung meist als terminale Entscheidung. Terminale Entscheidungen sind aufgrund ihrer Wirkung für die Betroffenen, ihr Umfeld und letztlich die Gesellschaft besonderen Qualitätserwartungen an die Urteilsbildung zu unterwerfen. Diese wiederum können eher klinisch oder eher statistisch begründetsein (Jäger & Kubinger 2003). Dabei sollte der rationalen, statistischen und evidenzbasierten Urteilsbildung der Vorzug gegeben werden. Allerdings beziehen die Entscheidungsregeln unter Umständen einzelfallspezifische Variablen nicht mit ein und die Verfügbarkeit von Evidenzen und Testverfahren bestimmt letztlich mit, welche diagnostischen Hypothesen überhaupt belegt oder falsifiziert werden können. Liegt der Entscheidung eine klinische Urteilsbildung zugrunde, so wird diese valider, wenn statistische Daten mit einbezogen werden. Die Forschung zum sog.
clinical reasoning
eröffnet einen empirischen Zugang,

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