Sprich nicht darüber
schließlich gebeten, bis sie nachgab und bei ihm einzog. Sie war bereit, Kompromisse zu schließen, für ihn die Rolle zu spielen, die er sich wünschte. Doch sie wusste die ganze Zeit, dass sie eines Tages rebellieren würde.
“Ich bin ein unabhängiger Mensch”, hatte sie ihm einmal erklärt.
“Aber nicht aus freier Entscheidung”, widersprach Anton stur. “Die Verantwortung, die du als junges Mädchen tragen musstest, war nicht normal. Aber jetzt bin ich da, du kannst dich bei mir anlehnen.”
Rosie hatte gelacht und ihm widersprochen, allerdings nicht besonders vehement. Er konnte nicht begreifen, was für ein Leben sie geführt hatte, aus welchen Kreisen sie kam, sie verstand ihn ja auch nicht wirklich. Und die Wahrheit würde ihn nur erschrecken. Sie hatten eine Brücke geschlagen über die Kluft von Reichtum und Bildung. Vorsichtig näherten sie sich von beiden Seiten an, und das ging erstaunlich gut, denn von Anfang an hatten sie sich gegenseitig vollkommen respektiert.
Was für ein ungeheures Glück ich doch hatte, dachte Rosie. Vier Monate reinster Wonne – das war vielen Menschen nie im Leben vergönnt. Vier Monate, in denen sie bedingungslos, selbstlos, abgöttisch geliebt wurde. Diese Glückseligkeit hatte die schlimme Vergangenheit ausgelöscht.
Rosie unterdrückte die aufsteigenden Tränen und lächelte versonnen. Die schönen Erinnerungen konnte ihr niemand nehmen. Genauso wenig wie den Ring, der seit zweihundert Jahren der Familie Estrada gehörte, Antons einziges greifbares Vermächtnis für sie. Als er ihr den Ring an den Finger steckte, hatte er Tränen in den Augen gehabt und sich nicht dafür geschämt.
“Jetzt wird er wieder getragen, denn dazu wurde er geschaffen”, hatte er gesagt.
Rosie dachte an Constatins empörten Ausruf, als er den Ring erkannte. Sie lachte trocken auf. Ja, ich habe dieses Geschenk angenommen, Constantin Voulos, und du solltest froh darüber sein. Denn wenn ich geldgierig wäre, hätte ich mir viel, viel mehr nehmen können, dachte sie. Anton wollte ihr regelrecht die Welt zu Füßen legen. Sein Glück und sein Stolz auf sie hatten auf fast unverantwortliche Weise andere Bindungen in den Hintergrund gedrängt. Das war übrigens das einzige Thema, über das Rosie mit Anton je gestritten hatte.
Sie hatte Schuldgefühle empfunden und wollte dennoch ihren Überzeugungen treu bleiben. Nicht, dass sie sich wie eine Ausbeuterin vorkam – sie konnte es nur einfach nicht fassen, wie jemand so unermesslich reich sein konnte. Es war ihr eigenes Unbehagen diesem Luxus gegenüber, das sie so gut es ging für sich behielt, weil es Anton bekümmert hätte. Aber sie war eben auch nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen, anfällig für jammerndes Selbstmitleid und – ja, Neid.
Mit neun Jahren hatte Constantin Voulos seine Eltern durch einen Autounfall verloren. Anton und Thespina hatten den Jungen bei sich aufgenommen und erzogen, als wäre er ihr eigenes Kind. Anton war nie auf die Idee gekommen, dass die ständigen Lobpreisungen der Tugenden und Talente seines Ziehsohns Rosie auf die Nerven gehen könnten. Doch insgeheim beneidete sie Constantin um das unverdiente Glück, bei so wunderbaren Menschen aufgewachsen zu sein, und sie schämte sich dafür.
Die Stille im Haus wurde für Rosie immer unerträglicher. Der Hall ihrer Schritte machte sie ganz nervös. Sie hätte noch an Antons Todestag ausziehen sollen, aber das Ganze hatte sie so überwältigt, dass sie einfach nicht mehr vernünftig reagieren konnte. Vor sechs Wochen erst war er mit einem leichten Herzschlag in die Klinik gekommen. Rosie war sofort bei ihm und ließ sich nur widerstrebend wegschicken, als sie erfuhr, dass Thespina und Constantin bereits am Flughafen gelandet waren.
“Bleib bei mir – sollen die anderen doch zum Teufel gehen!” hatte Anton ungnädig gewettert. Dass die Krankenschwester Rosies Besuch abwimmeln wollte, hatte ihn total erbost.
“Das ist nicht dein Ernst”, sagte Rosie. “Das kannst du deiner Frau nicht antun.” Da sprach ihr besseres Ich. Ihre weniger edle Hälfte fand, dass sie mehr Recht hatte als sonst jemand, bei Anton zu sein, und doch musste sie sich erst den Zugang erkämpfen und sich dann heimlich davonschleichen.
“Du nennst sie nie beim Namen.” Anton seufzte tief.
Rosie wurde rot und wich seinem Blick aus. Sie bekam die widerstreitenden Gefühle nicht in den Griff, den Schmerz, das Schuldbewusstsein. Thespina war seit dreißig Jahren seine Frau, eine
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