Spuren des Todes (German Edition)
gerade getratscht wird.
Und noch einen Punkt sollte man hierbei nicht unterschätzen: Gerade auf dem Land, in kleineren Ortschaften, wird es sich manch ein Hausarzt dreimal überlegen, ob er durch ein Kreuz an der vermeintlich falschen Stelle auf dem Leichenschein unangenehme Nachforschungen in Gang setzt. Schließlich muss er damit rechnen, dass dadurch andere Patienten abgeschreckt werden, zu ihm in die Praxis zu kommen. Vor allem, falls sich sein Verdacht am Ende nicht bestätigen sollte. Denn dann bleibt bei den Leuten vermutlich nur der eine Gedanke hängen: Wenn jemand in der Familie stirbt, hetzt der einem nur die Polizei auf den Hals.
Es muss also niemanden wundern, dass es zum Leichenschauwesen einige alarmierende Statistiken gibt. Eine davon besagt, dass auf jeder zweiten Todesbescheinigung eine falsche Todesursache vermerkt ist. Aber auch mit der korrekten Klassifizierung der Todesart – natürlich, nichtnatürlich oder ungeklärt – scheinen leichenschauende Ärzte nicht selten Probleme zu haben. Ein Beispiel: Eine alte, aber durchaus noch rüstige Frau stürzt im Winter auf einem vereisten Gehweg und zieht sich dabei einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zu. Sie kommt in ein Krankenhaus, wird operiert, erhält vielleicht sogar ein neues Hüftgelenk, bleibt aber – auch aufgrund ihres hohen Alters – bettlägerig. Nach einiger Zeit entwickelt sich eine Thrombose, eine Lungenentzündung kommt hinzu – die Frau hat keine Chance, sie stirbt. Auf der Todesbescheinigung liest man dann häufig unter Todesart: »natürlich«. Bezogen auf die unmittelbare Todesursache, dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Grund des Ablebens, ist das nicht einmal falsch. Würde man sich allerdings die Mühe machen und ermitteln, was am Anfang der Kausalkette stand – und das sollte jeder Arzt bei einer Leichenschau –, käme man zu einer anderen Einschätzung. Ursächlich war schließlich der Sturz der alten Dame, und somit ein Unfall. Ohne diesen wäre sie nicht im Krankenhaus gelandet. Stirbt aber jemand infolge eines Unfalls, scheidet »natürlich« als Todesart aus.
Oder nehmen wir die Diagnose »Herzversagen«, die als Todesursache mit Abstand am häufigsten auf Todesbescheinigungen genannt wird. Wenn das ernsthaft eine Diagnose wäre, müsste man sie ausnahmslos auf alle Todesbescheinigungen schreiben. Denn jeder Mensch stirbt letztlich daran, dass sein Herz versagt, ganz gleich ob dem eine schwere Krankheit vorausging oder eine tödliche Schussverletzung. Herzversagen ist ein Bestandteil des Sterbeprozesses. Das sagt aber nichts über die eigentliche Ursache aus, die den Tod herbeigeführt hat.
In die gleiche Kategorie fallen Angaben wie »Atemstillstand« und »Herzkreislaufversagen« oder der lapidare Hinweis auf das erreichte Lebensalter. Man möchte meinen, dass Ärzte die Letzten sind, denen das nicht bekannt ist. Ich mag daran auch keine Sekunde zweifeln. Fragt sich nur, warum dieses Wissen bei ihrem letzten Dienst am Menschen oft keine Rolle mehr zu spielen scheint.
Angesichts dieser eklatanten Schwachstellen im deutschen Leichenschauwesen braucht man über eine andere Erkenntnis nicht besonders erstaunt zu sein: Mindestens elftausend Todesfälle, das besagen Schätzungen nach mehreren Studien, werden jedes Jahr als natürliche Todesfälle eingestuft, obwohl sie das nicht sind. Dabei fallen auch, vorsichtig hochgerechnet, tausendzweihundert bis tausendvierhundert Tötungsdelikte durch den Rost. Das bedeutet, ungefähr jedes zweite, eher mehr. Und trotzdem haben Ärzte, die zu solchen beklemmenden Statistiken beitragen, so gut wie nie Sanktionen zu fürchten. Jeder ist nur ein Mensch, und Fehler passieren überall. Das stimmt ja auch. Man sollte sich aber schon fragen: Wenn die Fehlerquote dermaßen hoch ist, und das über einen sehr langen Zeitraum – liegt das Übel dann nicht im System?
Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass dieses System vorsätzlich darauf ausgerichtet wurde, möglichst viele Tötungsdelikte und andere nichtnatürliche Todesfälle zu vertuschen. Aber dass dieser Effekt von den Verantwortlichen, bis hin zum Gesetzgeber, zumindest billigend in Kauf genommen wird, lässt sich schwer bestreiten. Vor einigen Jahren erschien ein Sachbuch mit dem Titel »Tote haben keine Lobby« – leider beschreibt er die Problematik nur allzu gut.
Während der Zeit am Institut für Rechtsmedizin in Hamburg bestand eine meiner Aufgaben darin, Medizinstudenten Unterricht
Weitere Kostenlose Bücher