Spuren des Todes (German Edition)
wäre – ich konnte das nur besser ausblenden und mich voll auf die Aufgaben konzentrieren, die ich zu erfüllen hatte. Jetzt lief in meinem Kopf oft ein unerwünschter Film dazu ab. Ich konnte auch nicht mehr beliebig viele Obduktionen machen. Vorher hatte ich in einer Woche manchmal zwanzig und mehr durchgeführt. Jetzt merkte ich, dass das Limit bei etwa zwölf erreicht war. Überstieg ich diese Zahl, lagen oft meine Nerven blank.
Ich musste etwas unternehmen, das war mir klar. Nach der Geschichte in Fulham rief mich die Vertretung des Coroners an und riet mir, mit Professor Gordon Turnbull zu sprechen. Sie hatte schon Kontakt zu dessen Büro aufgenommen, ich musste nur noch einverstanden sein. Gordon Turnbull ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der posttraumatischen Belastungsstörung. Er gehörte zu den Ersten, die sich mit diesem Phänomen befassten, schwerpunktmäßig im militärischen Bereich. Lockerbie, Falkland-Krise, Afghanistan, Irak – er hat unglaublich viel Erfahrung. Es gibt ein kluges Buch von ihm, »Trauma«, darin schildert er seine Erfahrungen mit Betroffenen. Das habe ich regelrecht verschlungen.
Ich bekam tatsächlich einen Termin bei Professor Turnbull. Er fand meinen Fall interessant und sagte, was mit mir in solchen Situationen passiere, sei eine völlig nachvollziehbare Reaktion auf das, was ich erlebt hätte. Die Geschichte mit Chris habe mir gewissermaßen die Sicherungen rausgehauen. Während des Heilungsprozesses hätten sich dann offenbar ein paar Fehlschaltungen eingeschlichen, die müsste man nun korrigieren. Etwa so drückte er sich aus und schlug vor, eine kognitive Verhaltenstherapie anzugehen. Die würde helfen, alles wieder so hinzubekommen, wie es einmal war.
Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich bei einer Therapeutin einen Platz bekam. Die Frau war wirklich gut. Sie arbeitete mit mir daran, dass ich meine Schutzhülle zurückbekam, meinen Panzer, wie ich es immer nenne. Eines Tages sollte ich wieder verunglückte Motorradfahrer obduzieren können, selbst wenn sie beim Unfall ihren Kopf verloren hatten. Das war das Ziel.
Und der Weg dorthin bestand, vereinfacht ausgedrückt, unter anderem darin, mir in kritischen Situationen die Unterschiede klarzumachen: Dass es eben nicht Chris ist, dessen Leiche vor mir liegt. Oder dass es nicht der Sektionssaal in Uxbridge ist, in dem ich mich gerade befinde. Und wenn das nicht funktionierte, sollte ich mich im Raum umsehen und darauf konzentrieren, was ich sah, ganz real. Einfach um mich zu erden. Das könnten ganz einfache, unbedeutende Sachen sein, irgendwelche Gerätschaften oder eine gesprungene Fliese an der Wand gegenüber. Oder eine Person, die mit mir im Raum stand.
In späteren Sitzungen setzten wir uns an einen Computer, und sie zeigte mir Fotos von Unfallopfern mit Dekapitationen. Das war eine ziemlich harte Lektion, die sie mir aufgab. Auch da sollte ich mich auf die Unterschiede fokussieren. Vorher war es offenbar immer so gewesen, dass mein Gehirn auf Gemeinsamkeiten ausgerichtet war. Auf diese Weise hatte sich ganz automatisch eine Verbindung zu den Erlebnissen mit Chris eingestellt.
Es dauerte nicht lange, dann kamen im Alltag die passenden Fälle, als hätten wir darauf gewartet, um testen zu können, ob es mit der Theorie auch in der Praxis funktionierte.
Die erste Leiche, die mit abgetrenntem Kopf angeliefert wurde, erlebte ich in Haringey. Da lief die Therapie noch. Es war eine Frau, die sich auf die Schienen gelegt hatte. Als ich dorthin kam, wusste ich davon noch nichts. Sie hatten mir vorher nur die Zahl der Sektionen durchgegeben, die anstanden. Komischerweise hatte ich an dem Morgen, als ich aus dem Haus gegangen war, ein unbestimmtes ungutes Gefühl gehabt.
Als ich vor der Leiche stand, sagte ich mir, es ist eine Frau und ich bin nicht in Uxbridge! – es lief bestens. Die Selbstmörderin hatte es anscheinend auf eine Dekapitation angelegt. Wie es aussah, musste sie mit dem Hals direkt auf der Schiene gelegen haben. Der Kopf war relativ sauber abgetrennt. Der Rest des Körpers wies nur geringfügige Verletzungen auf. Das war etwas, was mich doch an Chris erinnerte. Zugegeben, ich verdrückte ein paar Tränen. Aber die Emotionen übermannten mich nicht mehr. Ich schaffte es, schnell wieder in den Wissenschaftsmodus umzuschalten. Ich konnte den Kopf sogar in die Hände nehmen und die Wunde genau untersuchen.
Ich erledigte meinen Job.
Das Gefühl hinterher war unbeschreiblich, mir fiel ein riesiger
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