Spuren des Todes (German Edition)
zuständigen Staatsanwalt, der ein Todesermittlungsverfahren einleitet. Und damit landet die Leiche erst einmal in der Rechtsmedizin. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie dann auch automatisch obduziert wird.
Nach der Einlieferung erfolgt zunächst eine äußere Leichenschau. Diese nimmt der diensthabende Rechtsmediziner vor. Es sei denn, der als »nichtnatürlich« deklarierte Tod ist allzu offensichtlich. Dann kann er darauf verzichten, da sie ohnehin als Bestandteil der Obduktion durchgeführt wird. Und das ebenfalls zeitnah. Obwohl das ganze Thema bundesweit nicht einheitlich gesetzlich geregelt ist, kann man sagen, dass bei Tötungsdelikten generell darauf gedrungen wird, das Opfer schnellstmöglich zu obduzieren, ganz gleich ob tagsüber oder nachts. Einmal natürlich, weil die Beamten, die in dem Fall ermitteln, keine Zeit zu verlieren haben und dringend auf Hinweise warten, die sie bei ihren Nachforschungen voranbringen. Und zum anderen – was genauso wichtig ist –, weil es auch für uns die Arbeit nicht einfacher macht, wenn damit erst ewig gewartet wird. Zwar sind die Kühlfächer, in denen man die Leichen aufbewahrt, mit vier Grad Celsius so temperiert, dass die Zersetzungsprozesse im Körper nahezu gestoppt werden. Das verhindert jedoch nicht gänzlich, dass die Fäulnis weiter voranschreitet.
Um noch den Gedanken fortzuführen, dass nicht jeder Tote, der auf nichtnatürliche Weise ums Leben gekommen oder bei dem die Todesursache unklar ist, obduziert wird: Gelangt ein Staatsanwalt aufgrund der Ermittlungsergebnisse zu dem Schluss, dass kein Fremdverschulden vorliegt, kann er die Leiche zur Bestattung freigeben, ohne dass die Gründe für das Ableben genau erforscht werden. Gerade bei Suiziden kommt das gar nicht so selten vor. Ein klassischer Fall hierfür: Jemand hat sich auf dem Dachboden seines Hauses erhängt, auf dem Küchentisch liegt ein Abschiedsbrief, der zweifelsfrei von ihm stammt, und die Eingangstür ist von innen verschlossen.
Während meiner Zeit am Institut für Rechtsmedizin in Hamburg wurden pro Jahr durchschnittlich rund zweitausendfünfhundert äußere Leichenschauen durchgeführt – das heißt, genauso viele Leichen wurden auch angeliefert. Zur Obduktion gelangten davon aber nur zwischen fünfhundert und sechshundert. Bei allen anderen Leichen wurde das als nicht notwendig erachtet. Und diese Relation ist nicht nur für Hamburg bezeichnend.
Überhaupt wird in Deutschland so wenig obduziert wie in kaum einem anderen europäischen Land. Im Schnitt sterben bei uns jedes Jahr rund achthundertfünfzigtausend Menschen. Davon landen nur zwei bis drei Prozent auf einem Sektionstisch. In der Schweiz liegt die Rate bei etwa zwanzig Prozent. In den skandinavischen Ländern bei zwanzig bis dreißig Prozent, in Österreich sogar noch darüber. In England, wo ich seit sechs Jahren lebe, werden etwa fünfundzwanzig Prozent der Verstorbenen obduziert. Dort wird bei jedem ungeklärten oder als nichtnatürlich eingestuften Tod automatisch eine Sektion angeordnet. Auf der Insel ist das Todesbescheinigungs- und Leichenschausystem allerdings auch grundlegend anders strukturiert, aber dazu komme ich später noch.
Prinzipiell gehen Ärzte in England beim Ausstellen von Todesbescheinigungen mit der Diagnose »natürlicher Tod« äußerst zurückhaltend um. Selbst Hausärzte, die zu einem Verstorbenen gerufen werden, den sie über Jahre als Patienten betreut haben, dessen Krankengeschichte sie demzufolge gut kennen. Und ganz besonders dann, wenn der seit einiger Zeit nicht mehr in ihrer Praxis gewesen war – womit zwei Wochen vor seinem Tod gemeint sind. Oder eben mehr, aber zwei Wochen sind die Grenze. Viele Ärzte sagen sich: Ich kann nicht wissen, ob jemand wirklich an den Folgen seiner Krankheit gestorben ist oder an etwas anderem. Und sie dürfen auch keinen natürlichen Tod attestieren, wenn derjenige plötzlich und unerwartet verstorben ist, während einer OP oder unmittelbar danach, durch einen Betriebsunfall oder infolge einer Berufserkrankung.
Im Vergleich dazu sind leichenschauende Ärzte in Deutschland wesentlich schneller dabei, einen natürlichen Tod zu bescheinigen. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, die in der Vergangenheit – und hier meine ich: seit Jahrzehnten – immer wieder analysiert und in Fachpublikationen thematisiert wurden, ohne dass sich grundsätzlich etwas geändert hätte. Es fängt damit an, dass es manchen Ärzten an der notwendigen Qualifikation für
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