Spuren des Todes (German Edition)
festgelegt. So dürfen sie ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten vorgenommen werden, die von der zuständigen Ärztekammer dazu ermächtigt wurden. Es muss immer ein Team von zwei Ärzten sein, und einer von ihnen muss Facharzt für Rechtsmedizin sein, Leiter eines rechtsmedizinischen Instituts oder jemand, der von diesem beauftragt wurde und ebenfalls über rechtsmedizinische Fachkenntnisse verfügt. Auf keinen Fall darf ein Verstorbener von dem Arzt obduziert werden, der ihn zuletzt behandelt hat, wozu auch Operationen und andere medizinische Eingriffe zählen, die dem Tod unmittelbar vorausgingen. Vorschrift ist außerdem, dass bei einer rechtsmedizinischen Sektion alle drei Körperhöhlen – Kopf-, Brust- und Bauchhöhle – geöffnet werden. Soweit es der Zustand der Leiche zulässt, oder sie nicht schon geöffnet sind. Das kommt vor, bei schweren Unfällen zum Beispiel. Selbst wenn sich eine Leiche bereits im Stadium fortgeschrittener Verwesung befindet, ist das kein Grund, sie nicht zu öffnen. Denn auch dann lassen sich oft noch wichtige Hinweise finden, die ihren Tod erklären können.
Unterstützt werden die beiden Ärzte von mindestens einem Sektionsgehilfen. Und besonders bei Tötungsdelikten ist es üblich, dass Kriminalpolizisten, die in dem Fall ermitteln, und eventuell auch der zuständige Staatsanwalt, der Obduktion beiwohnen, zumindest für eine gewisse Zeit. Dieses Detail wird in Kriminalfilmen gern ausgespart, vermutlich um den Spannungsbogen nicht zu ruinieren. Stattdessen werden Szenen konstruiert, in denen die Ermittler voller Ungeduld nagelkauend auf die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin warten. Oder man bekommt eine andere Variante vorgesetzt, die ebenfalls zum Standardrepertoire vieler Krimis gehört: Der Kommissar weiß sich in seiner Ungeduld nicht mehr zu zügeln, stürmt kurzerhand in den Sektionssaal, reißt Professor Börne und Co. mitten aus der Arbeit, um endlich den entscheidenden Hinweis zu bekommen, der ihn auf die Spur des Täters führt. Wenn ich solche Szenen sehe, könnte ich laut losprusten – weiter weg kann man von der Realität kaum sein.
Bevor man darangeht, die genannten Körperhöhlen zu öffnen, wird der Leichnam komplett entkleidet – falls er das nicht schon ist, wie bei der jungen Frau aus dem Dorf – und erneut einer äußeren Besichtigung unterzogen, die keinen Zentimeter des Körpers auslässt. Man beginnt am Kopf, genauer gesagt, auf dem Kopf, bei den Haaren. Dann Hinterkopf, Gesicht, Ohren, Hals, Schultern, Rücken, Brustbereich … immer weiter abwärts, bis zu den Fußsohlen. Und dabei wird alles genauestens dokumentiert, ob es die Beschreibung der Kleidung ist oder des Schmucks, der sich noch an der Leiche befindet, die Farbe des Nagellacks, der Zustand einer Operationsnarbe, ganz gleich ob frisch oder alt, die Länge der Finger- und Zehennägel oder die der Schamhaare, selbst winzige Kratzer auf der Haut, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Jedes Detail könnte noch von Bedeutung sein.
Die junge Frau kam so nackt auf den Sektionstisch, wie sie auf dem Sofa in dem Reihenhaus gelegen hatte. Als einziger Fremdkörper befand sich der weiße Bademantelgürtel an ihr, mit dem die Arme auf dem Rücken gefesselt waren. Er war dreimal um beide Handgelenke gewickelt und doppelt verknotet. Um den Knoten als mögliches Beweismittel zu erhalten, wurde der Gürtel auf der gegenüberliegenden Seite mit einer Schere durchtrennt. Aber erst nachdem die Fesselung fotografiert worden war.
Wie Jan bereits am Tatort festgestellt hatte, war der Leichnam mit Verletzungen regelrecht übersät. Unzählige Kratzer, Hautabschürfungen, Hautunterblutungen und kleine pockige Brandnarben an den Unterarmen und im Brustbereich, die aussahen, als wären glimmende Zigaretten auf der Haut ausgedrückt worden. Großflächiger waren die Hautveränderungen an den Innenseiten ihrer Oberschenkel. Anscheinend hatte sie dort vor längerer Zeit Verbrühungen erlitten. Allein die Beschreibung der äußeren Verletzungen sollte später zwölf Seiten des Sektionsprotokolls füllen.
Erst wenn das erledigt ist, beginnt man mit der »inneren Besichtigung«. Um die Kopfhöhle zu öffnen, wird zunächst die Kopfschwarte durch einen Schnitt quer über die Scheitelregion vom Schädeldach »abpräpariert«. Die Kopfschwarte der Leiche der jungen Frau zeigte im rechten Schläfenbereich eine frische Einblutung. An dieser Stelle war außerdem eine Schwellung, was vermuten ließ, dass sie
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