Spurlos in der Nacht
in der John-Colletts-Allee hielt, blieb er im Wagen sitzen und musterte die leeren Fenster des grauen Steinhauses. Es war schon nach drei. Er dachte an den Geruch, den er wahrgenommen hatte, als Sigrid anrief, um ihn vom Tod seiner Mutter zu informieren. Er ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und schloss für einen Moment die Augen. Etwas war mit diesem Geruch. Er dachte an Bentes Parfüm. Ellen benutzte Eternity. Was Sigrid nahm, wusste er nicht mehr. Vermutlich benutzte sie gar kein Parfüm und vielleicht auch kein Deodorant. Der Geruch, den er mit Sigrid assoziierte, war Chlor. Sie ging oft schwimmen, im Schwimmbad. Sie roch sauber und weiß. Er atmete aus, atmete wieder ein und öffnete die Augen. Er hatte damals einen scharfen Geruch wahrgenommen, wie Desinfektionsmittel, wie Pyrisept.
Helena Bjerke und Alf Boris Moen hatten freien Zugang zur Wohnung ihrer toten Mutter. Seines Wissens nach hatten sie ihr Erbe noch nicht geteilt. Plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kam die Erkenntnis, was das für ein Geruch gewesen war. Nagellackentferner, genau. Er sah die kleine Flasche vor sich, die seine Mutter früher im Badezimmer aufbewahrt hatte. Er dachte an Tulla Henriksens feuerrote Krallen, an Solvi Steens schwarze Nägel und an die Flasche mit Nagellackentferner, die bei seinem ersten Besuch bei ihr zu Hause neben den Osterküken auf dem Tisch gestanden hatte.
Cato Isaksen verließ das Auto. Er blieb noch eine Weile stehen und betrachtete das Haus, dann ging er den Kiesweg hoch und klingelte. War Solveig Wettergren damals unmittelbar vor ihm in Brenda Moens Wohnung gewesen? Hatte er also ihren Geruch aufgeschnappt?
Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als der kleine blaue Wagen langsam angefahren kam und vor dem Tor anhielt. Cato Isaksen drehte sich um und sah zu dem alten Mann hinüber, der sich aus dem Auto mühte. Es war derselbe Rentner, mit dem er schon einige Tage zuvor gesprochen hatte. Er schloss die Autotür und trug die Packung mit dem Mittagessen fast andächtig vor sich her. Er begrüßte Cato Isaksen freundlich. «Wieder was zu essen», sagte er und stellte die Packung auf die oberste Treppenstufe. Dann nickte er kurz, ging über den Kiesweg zurück, setzte sich ins Auto und fuhr.
Als er verschwunden war, gab Cato Isaksen einem plötzlichen Impuls nach und ging hinüber zu den grünen Mülltonnen, die gleich hinter dem Tor standen. Die eine war ganz leer. In der anderen lagen einige Zeitungen und ein flacher Pappkarton. In der dritten fand er vier verknotete Plastiktüten. Cato Isaksen schaute sich kurz um und wartete, bis ein älteres Ehepaar und einige junge Mädchen vorübergegangen waren. Dann zog er die Plastiktüten heraus und öffnete eine nach der anderen. Ein widerlicher fauliger Geruch schlug ihm entgegen. Er leerte sie auf dem Kiesweg aus. Sie enthielten normale Dinge, Essensreste, eine leere Majonäsentube, Kartoffelschalen und eine Filtertüte mit feuchtem Kaffee. Er suchte etwas Bestimmtes. Aber das find er nicht. Es gab keine Packungen aus Alufolie. Wer verzehrte die Mahlzeiten, die jeden Tag vor die Tür gestellt wurden? Cato Isaksen fiel plötzlich etwas ein, was ein Kollege vor vielen Jahren zu ihm gesagt hatte. Wer sieht, weiß nicht, was er nicht sieht, hatte er gesagt. Eine heftige Unruhe durchfuhr ihn. Er packte die Abfälle zusammen und warf sie wieder in die Mülltonne. Dann wischte er sich die Hände ab, ging zur Tür zurück und schellte noch einmal.
Niemand machte auf. Er ging die Steintreppe hinunter und folgte dem Kiesweg um das Haus. Ihm fiel auf der Rückseite eine kleine Öffnung im Zaun auf, die es einem erlaubte, einem kleinen Gehweg zwischen zwei Gärten zu folgen und auf diese Weise das Haus von einer Parallelstraße her zu erreichen. Er folgte diesem Weg einige Meter weit und schaute zum ersten Stock hoch. Ein hoher Baum, noch immer mit üppigem dichtem Blattwerk, ragte hinter den blanken Dachziegeln auf. Hinter einem kleinen Badezimmerfenster brannte Licht. Ansonsten waren alle Fensterscheiben dunkel. Der Himmel zog sich zusammen und wurde dunkel und regenschwer. Cato Isaksen war plötzlich davon überzeugt, dass Alf Boris Moen ja doch zu Hause sein könnte, auch wenn er die Tür nicht öffnete. Er schob die Hand in die Tasche und betastete den kalten Schlüssel, den er seit seinem letzten Besuch noch behalten hatte.
64
Cato Isaksen stand in dem dunklen Treppenhaus zwischen den beiden Wohnungen. Die Stille schlug ihm
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