Grappa 03 - Grappa macht Theater
Die Welt ist ein Sumpf – und wir suhlen uns mittendrin
Langsam öffnete sich der rotweinfarbene Vorhang, stockte einige Sekunden, als wolle ein gnädiger Geist die Zuschauer vor dem Anblick, der sich gleich bieten würde, bewahren.
Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das sanfte Licht gewöhnt hatten, doch dann sah ich, was nicht zu übersehen war: Die Bühne war mit dunklem Erdreich bedeckt. Zwischendrin mehrere Pfützen. Rundherum lagen Kleidungsstücke. Es roch nach feuchtem Moder mit einem Hauch von Pferdemist. Die Gefäße in der Kulisse waren mit prallen Würsten gefüllt, in den Regalen lagen Eier, in der Erde scharrten verwirrte lebende Hühner, die ganz offensichtlich an ihrem Verstand zweifelten. Ein klägliches Gackern schallte in den Zuschauerraum. Hier und da ein kleines Geflatter, weiße Federchen versanken im Morast. Hühner in Panik.
Obwohl ich tierlieb bin, versetzte mich das Federvieh in eine ziemlich schlechte Stimmung. Maria Grappa, fragte ich mich, was in aller Welt hat ausgerechnet dich ins Theater verschlagen? Und das, wo ich gerade heute hätte wählen können zwischen einem Klassentreffen beim Italiener, einem gemütlichen Fernsehabend mit 23 Programmen und einer Flasche Roten oder der Rezension eines Lesben-Krimis, den der Sappho-Frauenbuchverlag dringend von mir erwartete.
All das wäre sinnvoller gewesen als dieser Abend! Ich seufzte tief und drückte mich in den Theatersessel. Fehlentscheidungen müssen durchgestanden werden.
Tapfer blickte ich auf die Bühne. Meine Augen sahen ein großes Käserad, das an der Wand lehnte. Auf dem Tisch Spuren einer gerade gegessenen Mahlzeit. Speck, und schon wieder Käse. »Metapher« wurde so was wohl genannt. Klar, dachte ich, warum nicht, die Story spielt ja in Holland. Und Holland ist Käse. Das weiß jedes Kind.
Von der Bühnendecke baumelte ein dickes Tau, an dem eine Glocke hing. Alles hing genau über dem großen Schlammhaufen.
Ich war noch immer verwirrt. Im Textbuch stand etwas von einer Amtsstube. Das hier sah aus wie ein Schweinestall.
Ich blickte auf Nello von Prätorius, der – wie vom Donner gerührt – rechts vor mir saß. Er hatte mich in dieses Stück gelockt, von einem »kulturellen Ereignis« gesprochen. Nello war der Kulturkritiker des »Bierstädter Kulturechos«, gefürchtet wegen seiner scharfen Feder und geachtet wegen seines sicheren Urteils. Aber mit diesem Bühnenbild hatte selbst er nicht gerechnet, so schien es mir.
»Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist – so hieß das Stück heute Abend. Ein Klassiker, der vielen Menschen in den letzten 200 Jahren angeblich Freude gemacht haben soll. Die Geschichte von einem geilen alten Amtsrichter, der einer Jungfrau nächtens nachsteigt und dabei einen Krug zerdeppert.
Eine Story, die jeder versteht. Dem Bierstädter Theaterpublikum auf den Leib geschrieben. Das Haus war ausverkauft, denn alle wollten die erste Inszenierung des neuen Schauspieldirektors sehen. Sogar ich war darauf reingefallen und hatte mir eine Karte im Gegenwert von einem Abendessen gekauft.
Schade, dass Nello von Prätorius nicht direkt neben mir saß. Ich hätte gern ein paar passende Worte an ihn gerichtet. Aber vielleicht kam noch Schwung in die Sache.
Da! Bewegung auf der Bühne. Vom Seil rutschte ein Mann in Unterwäsche mitten in eine Pfütze und schrie auf. Es klang echt. Das musste der Dorfrichter Adam sein, denn ich erkannte Paul Pistor, den Kammerschauspieler der Bierstädter Bühnen. Sein kugelrunder Bauch war nicht mit den »Biergewächsen« anderer Herren zu verwechseln.
Paul Pistor war recht schwer und nicht mehr der Jüngste. Da saß er nun und hatte Mühe, sich aufzurappeln. Der Schlamm hatte seine blütenweißen Unterhosen ruiniert. Er schien sich wehgetan zu haben, denn er rieb sich Kopf und Bein. Aber das gehört vielleicht zur Rolle, fiel mir ein.
»Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam!
Was ist mit Euch geschehen, wie seht Ihr aus?«
Ein zweiter Mann war aufgetreten. Wohl der Schreiber des Richters, wie ich dem Programm entnehmen konnte.
»Wie seht ihr aus?«
wiederholte er. Eine gute Frage! Denn der Richter sah ziemlich verdreckt aus. Mit der linken Hand verscheuchte er ein Huhn, das sich hilfesuchend auf seinen Schoß geflüchtet hatte. Es gackerte empört auf und flog auf das Käserad.
»Ja, seht!«
sprach Paul Pistor mit einer tiefen melodischen Stimme.
»Zum Straucheln braucht‘s doch nichts als Füße.
Auf diesem glatten Boden, ist ein
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