In einem Boot (German Edition)
Prolog
Die Anwälte waren schockiert über mein Benehmen. Es überraschte mich, welche Wirkung ich auf sie hatte. Als wir heute das Gerichtsgebäude verließen, um ein Mittagessen zu uns zu nehmen, ging ein Gewitter nieder. Eilig suchten die Herren Schutz unter der Markise eines Geschäfts, damit ihre Anzüge nicht nass wurden, während ich mitten auf der Straße stehen blieb, mein Gesicht nach oben gewandt, den Mund weit geöffnet. Ich war wieder dort, erlebte noch einmal jenen anderen Regen, der uns in einen grauen Mantel hüllte. Ich hatte diesen Regenguss erlebt, aber dort auf der Straße spürte ich zum ersten Mal, dass ich ihn wieder erleben, dass ich erneut eintauchen konnte und dass es wieder der zehnte Tag war. An diesem Tag hatte es angefangen zu regnen.
Der Regen war kalt, aber wir hießen ihn willkommen. Anfangs war es nicht mehr als ein sanftes Nieseln, aber je weiter der Tag fortschritt, desto stärker regnete es. Wir hoben unsere Gesichter, rissen die Münder auf und wässerten unsere geschwollenen Zungen. Mary Ann konnte oder wollte den Mund nicht öffnen, weder um zu trinken noch um zu sprechen. Sie war etwa in meinem Alter. Hannah, die nur unwesentlich älter war, schlug sie fest ins Gesicht und sagte: »Mach den Mund auf oder ich mache es!« Dann packte sie Mary Ann und hielt ihr die Nase zu, bis sie gezwungen war, nach Luft zu schnappen. Lange Zeit saßen die beiden in einer groben und erbarmungslosen Umarmung da. Hannah drückte Mary Anns Kiefer auseinander, damit der graue, rettende Regen in sie fließen konnte, ein Tropfen nach dem anderen.
»So kommen Sie doch!«, rief Mr Reichmann, der die kleine Gruppe von Anwälten leitet, die von meiner Schwiegermutter angeheuert wurde – nicht etwa, weil ihr etwas an mir liegt, sondern weil sie der Meinung ist, dass meine Verurteilung ein schlechtes Licht auf ihre Familie werfen würde. Mr Reichmann und seine Kollegen versuchten vom Gehsteig aus, mich zum Herkommen zu bewegen, aber ich tat so, als würde ich sie nicht hören. Sie wurden wütend, weil sie sich nicht beachtet fühlten oder besser gesagt: weil ich ihnen nicht gehorchte. Und das ist für Leute, die es gewohnt sind, von einem Podium aus zu sprechen, und die sich der Aufmerksamkeit von Richtern und Geschworenen sicher sein können und von Menschen, die unter Eid stehen oder zum Schweigen verpflichtet sind und deren Freiheit davon abhängt, welche Wahrheit sie sich entscheiden zu erzählen, geradezu eine Ungeheuerlichkeit. Als ich mich schließlich von dem Regen losriss und mich zu ihnen gesellte, zitternd und bis auf die Knochen durchnässt, aber insgeheim voller Freude, weil ich die kleine Freiheit meiner Einbildungskraft wiedergefunden hatte, fragten sie mich: »Was sollte das denn? Was haben Sie gemacht, Grace? Sind Sie verrückt geworden?«
Mr Glover, der immer am nettesten ist, legte seinen Mantel um meine tropfnassen Schultern, und kurz darauf war das feine Seidenfutter ebenfalls völlig durchnässt. Ich war zwar von Mr Glovers Geste gerührt, aber es wäre mir lieber gewesen, wenn der gut aussehende, etwas stämmige Mr Reichmann meinetwegen seinen Mantel im Regen ruiniert hätte.
»Ich hatte Durst«, sagte ich. Ich war immer noch durstig.
»Aber das Restaurant ist gleich um die Ecke. Es ist nur noch ein halber Block bis dahin. In ein paar Minuten können Sie trinken, was Sie wollen«, sagte Mr Glover, während die anderen in die Richtung deuteten, in der das Restaurant lag, und mir ermutigend zunickten. Aber mich dürstete nach Regen und Salzwasser, nach der endlosen Weite des Ozeans.
»Das ist sehr komisch«, sagte ich und lachte über den Umstand, dass ich mir aussuchen konnte, was ich trinken wollte, wo mich doch nach nichts dergleichen verlangte. Ich hatte die vergangenen zwei Wochen im Gefängnis verbracht, und man ließ mich nur für die Verhandlung hinaus. Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken. Es schwappte in meinem Inneren hin und her und brach aus mir heraus wie haushohe Wellen.
Ich durfte die Anwälte nicht in den Speisesaal des Restaurants begleiten, sondern musste meine Mahlzeit in der Garderobe einnehmen, wo ein Kanzleigehilfe von einem Stuhl in der Ecke aus über mich wachte, während ich an meinem Sandwich knabberte. Wir saßen da wie zwei Vögel, und ich kicherte vor mich hin, bis mir die Seiten wehtaten und ich befürchten musste, mich zu übergeben.
»Nun«, sagte Mr Reichmann, als die Anwälte ihr Mittagessen beendet hatten und mich abholten, »wir haben
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