Stachelzart
mich einfach in die letzte Reihe des Hörsaals und schaute mich verzweifelt nach bekannten Gesichtern um. Leider sah ich nur Hinterköpfe, die alle ein Papier studierten. Nun musste ich mich wohl doch bemerkbar machen:
„Entschuldigung, ich bräuchte auch noch die Klausur!“
Gefühlte hundert Hinterköpfe drehten sich fast zeitgleich zu mir um und – ich kannte keines dieser Gesichter. Da war ich wohl im falschen Hörsaal gelandet! In diesem tagte gerade eine Auswahl an Dozenten zum Thema 'ADHS bei Erwachsenen – Methoden im Umgang mit betroffenen Studenten'. Mit dem Satz: „Da haben wir ja eine freiwillige Testperson!“ und dem Gelächter aller Anwesenden im Rücken, flüchtete ich aus dem Hörsaal. Meine Klausur habe ich dann an diesem Tag nicht mehr geschrieben.
Oder vor ein paar Monaten: Meine Freundin Anja gab eine Babyparty. So eine Art Mitbringparty vor der Geburt ihres zweiten Kindes. Ich hatte ihr versprochen, zu helfen und so schnappte ich mir die Sekt- und Orangensaftgläser und begrüßte die weiblichen Gäste an der Türe mit einem kleinen Willkommenstrunk.
Anja kennt ziemlich viele Leute und einige davon habe ich längere Zeit nicht gesehen. Als dann Anjas Chefin Ute hereinkam, wollte ich es besonders gut machen und reichte ihr ein Glas mit den Worten: „Für Sie soll es doch sicher nur Orangensaft sein?“, mit einem zwinkernden Nicken in Richtung ihres leicht gewölbten Bauches. „Was soll das denn heißen?“, empörte sich Ute. „Ich bin doch nicht schwanger. Her mit dem Sekt! So eine Unverschämtheit!“ Dass sie mich den ganzen Abend lang kalt lächelnd ignorierte, muss ich nicht erwähnen...
Und auch dieser Tag heute, ein Sonntag, scheint sich für mich zu einem Pechtag zu entwickeln. Ich sitze mit meinen Eltern in ihrem Esszimmer am liebevoll gedeckten Esstisch und warte . Mein Vater hat gerade begonnen mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch zu trommeln. Das macht er immer, wenn er nervös oder ärgerlich ist. Schon als Kind wusste ich, dass Fingerklopfen nichts Gutes bedeutet. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis er einen seiner berühmten Wutausbrüche bekommt. Meine Mutter sagt gerade zum zehnten Mal: „Ich sehe mal nach, ob die Klingel noch funktioniert!“
Dabei steht sie auf und verschwindet in Richtung Küche. Ich glaube, dass sie auf dem Weg zur Tür jedes Mal in der Küche von ihrem gekochten Essen nascht. Meine Mutter liebt es zu essen und sie kann es absolut nicht leiden, wenn sie warten muss. Nach einiger Zeit ertönt alibimäßig ein schrilles „ Drrrriiinggg“ und ein „Funktioniert noch!“, bei dem mein Vater und ich jedes Mal zusammen zucken.
„Wann hat er gesagt, dass er kommen will?“, fragt meine Mutter, als sie sich wieder auf ihren Platz setzt. „Um 14 Uhr“, antworte ich zum zehnten Mal. Dabei läuft mir langsam ein kleiner Schweißtropfen die Stirn herunter.
Heute ist LGVT , L ebensabschnitts- G efährten- V orstellungs- T ag.
Diesen Tag haben meine Eltern eingeführt, als ich zwanzig wurde und sie sich nun näher für meine Lebenspartner interessierten. Immerhin würden zukünftige Enkelkinder einen nicht unerheblichen Genanteil von meinem Partner erben, so lautete ihr Tenor und den müsse man sich schließlich genauer ansehen. Ich hatte schon einige LGVT s und jedes Mal war ich mir sicher, dass es nun der letzte sein würde, da ich meinen Traumpartner gefunden hätte. Meine Eltern haben inzwischen eine Art Routine beim LGVT entwickelt. Ähnlich wie beim Arzt, der einen Gesundheitscheck durchführt, wird der potentielle Schwiegersohn anhand einer Liste, die nur in ihren Köpfen existiert, auf Herz und Nieren getestet.
Würde man die Liste ausdrucken, würde sie ungefähr so aussehen:
Checkliste potentieller Schwiegersohn
Erster Bereich: Äußere Erscheinung
gut gekleidet ja/nein
mindestens 1.80m ja/nein
volles Haar ja/nein
gepflegte Hände ja/nein
O-Beine ja/nein
sportliche Figur ja/nein
Zweiter Bereich: Lebenseinstellung
gute Schulbildung ja/nein
erfolgsorientiert ja/nein
kinderlieb ja/nein
Fußballfan (extrem wichtig für meinen Vater) ja/nein
plant ein Eigenheim mit Gästezimmer für Schwiegereltern zu bauen (extrem wichtig für meine
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