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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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verschwunden, und der Rest grau oder sogar weiß. Er hat etwas merkwürdig Vertrautes: der grüblerische Typ, zweifellos überempfindlich, nervös, jemand, der stottern könnte, mit sich selbst kämpfen, um die Flut der Worte einzudämmen, die aus seinem Mund strömt.

    Der kleine Peter. Muß ich es mir vorstellen, oder kann ich es auf Treu und Glauben akzeptieren? Die Dunkelheit. Denken, daß ich selbst in diesem Zimmer bin und schreie. Ich zögere. Ich glaube auch nicht, daß ich es überhaupt verstehen will. Wozu auch? Das ist schließlich keine Geschichte. Es ist eine Tatsache, etwas, was auf der Welt geschieht, und ich soll eine Arbeit tun, eine einzige kleine Sache, und ich habe Ja dazu gesagt. Wenn alles gutgeht, müßte es sogar ganz einfach sein. Ich bin nicht engagiert worden, um zu verstehen - nur um zu handeln. Das ist etwas Neues. Etwas, was ich mir um jeden Preis merken muß.

    Und dennoch, wie sagt Dupin bei Poe? >Eine Identifikation des Verstandes des Denkenden mit dem seines Gegners.< Aber das würde hier für Stillman senior gelten. Was wahrscheinlich noch schlimmer ist.

    Was Virginia betrifft, bin ich in einer verzwickten Lage. Nicht nur der Kuß, der sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären ließe. Nicht, was Peter über sie sagte; das ist unwichtig. Ihre Ehe? Vielleicht. Ihre völlige Widersinnigkeit. Könnte es sein, daß es ihr um das Geld geht? Oder arbeitet sie irgendwie mit Stillman zusammen? Das würde alles ändern. Aber gleichzeitig wäre das sinnlos. Denn warum würde sie mich dann engagiert haben? Um einen Zeugen für ihre scheinbar guten Absichten zu haben? Vielleicht. Aber das scheint mir zu kompliziert zu sein. Und doch: Warum habe ich das Gefühl, daß man ihr nicht trauen darf?

    Noch einmal Stillmans Gesicht. Ich denke in diesen letzten Minuten, daß ich es schon einmal gesehen habe. Vielleicht vor Jahren hier im Viertel - vor der Zeit seiner Haft.

    Sich erinnern, wie es ist, anderer Leute Kleider zu tragen. Damit beginnen, denke ich. Annehmen, ich muß. Damals, vor achtzehn, zwanzig Jahren, als ich kein Geld hatte und Freunde mir ihre Sachen zum Tragen gaben. J.s alter Mantel auf dem College, zum Beispiel. Und das seltsame Gefühl, das ich immer hatte, in seine Haut zu kriechen. Das ist wahrscheinlich ein Anfang.

    Und dann, das wichtigste von allem: mich erinnern, wer ich bin. Mich erinnern, wer ich sein soll. Ich glaube nicht, daß das ein Spiel ist. Andererseits ist nichts klar. Zum Beispiel: Wer bist du? Und warum, wenn du es zu wissen glaubst, lügst du weiter? Ich weiß keine Antwort. Alles, was ich sagen kann, ist dies: Hören Sie mir zu. Mein Name ist Paul Auster. Das ist nicht mein richtiger Name.

6

    Quinn verbrachte den nächsten Vormittag mit Stillmans Buch in der Bibliothek der Columbia University. Er kam früh an, war der erste, als die Türen geöffnet wurden, und die Stille der Marmorhallen tröstete ihn, als wäre es ihm erlaubt worden, eine Krypta des Vergessens zu betreten. Nachdem er dem verschlafenen Aufseher hinter dem Tisch kurz seinen Absolventenausweis gezeigt hatte, ließ er sich das Buch aus dem Magazin kommen, kehrte in den dritten Stock zurück und setzte sich in einem der Raucherzimmer in einen grünen Lederfauteuil. Der helle Maimorgen lauerte draußen wie eine Versuchung, ein Ruf, ziellos im Freien zu wandern, aber Quinn widerstand ihm. Er drehte den Fauteuil um, setzte sich mit dem Rücken zum Fenster und schlug das Buch auf.
    Der Garten und der Turm: Frühe Visionen der Neuen Welt bestand aus zwei annähernd gleich großen Teilen: »Der Mythos vom Paradies« und »Der Mythos von Babel«. Der erste konzentrierte sich auf die Entdeckungen der Forschungsreisenden von Kolumbus bis Raleigh. Stillman stellte die Behauptung auf, daß die ersten Männer, die nach Amerika kamen, glaubten, sie hätten zufällig das Paradies gefunden, einen zweiten Garten Eden. Im Bericht über seine dritte Reise, zum Beispiel, schrieb Kolumbus: »Denn ich glaube, daß hier das irdische Paradies liegt, welches keiner betreten kann, es sei denn mit Erlaubnis Gottes.« Über die Menschen dieses Landes schrieb Peter Martyr schon 1505: »Sie scheinen in jener goldenen Welt zu leben, von der alte Schriftsteller so viel sprechen und worin die Menschen einfach und unschuldig lebten, ohne den Zwang von Gesetzen, ohne Streit, ohne Richter oder Klageschriften, zufrieden, allein der Natur Genüge zu tun.« Oder wie der allgegenwärtige Montaigne mehr als ein halbes

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