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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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waren jedoch nicht die einzigen, die sich für dieses Thema interessier­ten. Ein so gesunder und skeptischer Mann wie Montaigne befaßte sich eingehend mit dem Problem und schrieb in seinem bedeutendsten Essay, Apologie für Raymond Sebond: »Ich glaube, daß ein Kind, das in vollkommener Einsamkeit, fern von jeglicher Gesellschaft aufgezogen wurde (was freilich ein schwer durchzuführendes Experiment wäre), eine Art Sprache haben würde, um seine Gedanken auszudrücken. Und es ist nicht glaubhaft, daß uns die Natur dieses Hilfsmittel versagt hat, welches sie vielen anderen Tieren gab ... Es bleibt aber noch zu erfahren, welche Sprache dieses Kind sprechen würde, und was darüber an Mutmaßungen vorgebracht wurde, hat keinen großen Anschein von Wahrheit.«
    Abgesehen von derlei Experimenten gab es Fälle von zufälliger Isolation - Kinder, die sich im Wald verirrten, Seeleute, die auf Inseln ausgesetzt, Kinder, die von Wölfen großgezogen wurden - und die Fälle grausamer, sadistischer Eltern, die ihre Kinder aus keinem anderen Grund als unter dem Zwang ihres eigenen Wahnsinns einsperrten, an Betten ketteten, in Kammern prügelten und marterten. Quinn hatte die diesen Geschichten gewidmete umfangreiche Literatur gelesen. Da gab es den schottischen Seemann Alexander Selkirk (für manche das Vorbild Robinson Crusoes), der vier Jahre lang allein auf einer Insel vor der chilenischen Küste lebte und dem Kapitän zufolge, der ihn 1708 rettete, »seine Sprache durch Mangel an Gebrauch so sehr vergessen hatte, daß wir ihn kaum verstehen konnten«. Keine zwanzig Jahre später wurde Peter von Hannover, ein wilder Knabe von etwa vierzehn Jahren, den man nackt und stumm in einem Wald außerhalb der Stadt Hameln gefunden hatte, unter dem besonderen Schutz Georgs I. an den englischen Hof gebracht. Swift und Defoe erhielten Gelegenheit, ihn zu sehen, und aufgrund dieses Erlebnisses verfaßte Defoe 1726 seine Schrift Mere Nature Delineated. Peter lernte jedoch nie sprechen, und er wurde einige Monate später aufs Land geschickt, wo er ohne Interesse am anderen Geschlecht, an Geld oder anderen irdischen Dingen bis zum Alter von siebzig Jahren lebte.
    Ein weiterer Fall war Victor, der wilde Knabe von Aveyron, der 1800 gefunden wurde. Unter der geduldigen und fürsorglichen Pflege Dr. Itards erlernte Victor eine rudimentäre Sprache, aber er kam nie über das Niveau eines kleinen Kindes hinaus. Besser bekannt als Victor war Kaspar Hauser, der 1828 eines Nachmittags in Nürnberg erschien, seltsam gekleidet und kaum fähig, einen verständlichen Laut zu äußern. Er konnte seinen Namen schreiben, benahm sich aber in jeder anderen Hinsicht wie ein kleines Kind. Er wurde von der Stadt adoptiert und der Obhut eines Lehrers anvertraut und verbrachte seine Tage, indem er auf dem Boden saß und mit Holzpferdchen spielte. Er nahm nur Brot und Wasser zu sich. Immerhin entwickelte sich Kaspar. Er wurde ein vorzüglicher Reiter, war zwanghaft reinlich, hatte eine Vorliebe für die Farben Rot und Weiß und besaß ein außergewöhnliches Gedächtnis, vor allem für Namen und Gesichter. Dennoch zog er es vor, im Hause zu bleiben, er scheute helles Licht und zeigte wie Peter von Hannover keinerlei Interesse an Sex und Geld. Als seine Erinnerung allmählich zurückkehrte, konnte er berichten, daß er viele Jahre auf dem Boden eines dunklen Raumes zugebracht hatte und von einem Mann gefuttert worden war, der nie mit ihm sprach oder sich von ihm sehen ließ. Nicht lange nach diesen Enthüllungen wurde Kaspar in einem öffentlichen Park von einem Unbekannten erdolcht. Es war nun Jahre her, daß Quinn es sich zum letztenmal erlaubt hatte, an diese Geschichten zu denken. Das Thema Kinder war für ihn zu schmerzlich, vor allem wenn es um Kinder ging, die gelitten hatten, mißhandelt worden waren, gestorben waren, bevor sie erwachsen werden konnten. Wenn Stillman der Mann mit dem Dolch war, der zurückkehrte, um sich an dem Jungen zu rächen, dessen Leben er zerstört hatte, wollte Quinn zur Stelle sein, um ihn daran zu hindern. Er wußte, daß er seinen eigenen Sohn nicht wieder lebendig machen konnte, aber zumindest konnte er einen anderen davor bewahren zu sterben. Plötzlich war es für ihn möglich geworden, so etwas zu tun, und als er nun auf der Straße stand, stieg das, was vor ihm lag, wie ein schrecklicher Traum um ihn her auf. Er dachte an den kleinen Sarg, der den Körper seines Sohnes einschloß, und daran, wie er am Tag der Beerdigung in

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