Stadt aus Trug und Schatten
Weiße Löwe meinen Namen wisperte. Dann war es vorbei. Ich schlug die Augen auf, als erwachte ich aus einem fernen Traum. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, blinzelte. Der Kanzler riss mir die Telechromaten aus den Händen.
Zähflüssig wanden sich die Gedanken durch mein Hirn und begannen kurz darauf zu rasen. Hatte es funktioniert? War es mir gelungen, meine Erinnerungen ein weiteres Mal zu manipulieren? Hatte ich mein Wissen über den Verbleib des Weißen Löwen erneut ausgelöscht?
Auch der Kanzler wollte nichts dringender wissen als die Antworten auf diese Fragen. »Wo ist der Stein?«, fragte er tonlos.
Ich durchforstete mein Gedächtnis. Ich wusste, der Weiße Löwe war mächtig. Er war wichtig und ein Teil von mir. Und ich hatte ihn verborgen. Unten, tief im Gestein unterhalb des Sees. Ich war durch Wasser und Fels getaucht und hatte diesen Raum gefunden … Ja, selbst jetzt noch spürte ich, dass der Stein dort unten auf mich wartete, hörte, wie er nach mir rief.
Ich seufzte. Meine Erinnerungen waren noch da, kristallklar und vollständig. War nun alles verloren? Würde der Kanzler doch noch bekommen, was er wollte? Meine Fingernägel krallten sich in die Haut meiner Oberarme.
»Wo ist er?«, brüllte er, jedes Wort ein wütender Aufschrei.
»Das …«, stammelte ich. Werde ich Ihnen niemals verraten, wollte ich den Satz beenden. Stattdessen kam mir etwas gänzlich anderes über die Lippen. »Das muss ich vergessen haben«, hörte ich mich selbst sagen und vergaß vor Überraschung beinahe weiterzuatmen.
Plötzlich war ich ganz ruhig. Es war nichts als ein Bluff. Wahnwitzig und gleichzeitig perfekt. Ein Bluff, der all meine Probleme lösen würde. Ich spürte, wie ich zu lächeln begann. Dann sah ich dem Kanzler direkt in die uralten Jungenaugen.
»Keine Ahnung«, flüsterte ich und erschrak selbst darüber, wie unheimlich meine Stimme vom Gewölbe der Grotte widerhallte.
Die Erkenntnis verformte das Gesicht des Kanzlers zu einer Fratze. Er öffnete den Mund und zuerst dachte ich, er würde schreien. Doch kein Ton kam heraus und dieses Schweigen war noch viel schlimmer. Es war das Schweigen eines Mannes, der gerade jede Hoffnung verloren hatte, jemals wieder das Tageslicht zu sehen oder Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu fühlen. Stumm sackte der Kanzler in sich zusammen, fiel auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen.
Weder die Schattenreiter noch Barnabas oder Fluvius Grindeaut rührten sich und auch ich konnte nicht anders, als den Kanzler anzustarren, der sich auf dem Fels krümmte, als leide er große Schmerzen. Eine endlose Minute lang war es, als stünde die Zeit still. Niemand sagte etwas. Niemand tat etwas. Nicht einmal das Plätschern des Sees war zu hören.
Schließlich erhob sich der Eiserne Kanzler und straffte die Schultern. Mit versteinerten Zügen sah er mich an, die Augen zwei glühende Kohlenstücke in ihren Höhlen.
Für eine halbe Ewigkeit stand er so da.
Er tat nichts, als mich anzustarren, und ich starrte zurück.
Keiner von uns beiden blinzelte. Wir schwiegen und doch gellten meine Ohren vor unausgesprochenen Worten. Meine Wangen brannten vor ungeschlagenen Ohrfeigen und mein Herz krampfte sich zusammen vor unsichtbarem Hass. Würde er mich nun töten? Ich wartete. Wartete, während die Verzweiflung den Kanzler in eine leblose Puppe zu verwandeln schien.
Da endlich hob er die Hand, gab Barnabas ein Zeichen. Der Bettler, der nur darauf gewartet hatte, packte mich so grob bei den Haaren, dass ich aufschrie.
Barnabas zückte einen Dolch und richtete die blitzende Klinge direkt auf mein Herz. Ich keuchte vor Angst.
Noch immer sah der Kanzler mich an, als wartete er darauf, Genugtuung zu finden. Vergeblich. Unendlich langsam schüttelte er den Kopf, und während Barnabas mich von sich stieß und ich unsanft auf meinem Steißbein landete, begriff ich es: Der Rachedurst des Kanzlers war zu groß. Mein Tod würde nicht genügen, um ihn zu stillen. Bei Weitem nicht.
Mit einem Knurren bedeutete der Kanzler seinen Schattenreitern, ihm zu folgen. Gemeinsam mit Barnabas stiegen sie die Treppe hinauf und ich eilte zu Fluvius Grindeaut und Marian, der noch immer bewusstlos am Rande des Plateaus lag.
Der Großmeister hatte sich über die reglose Gestalt gebeugt und hielt Marians Kopf auf seinen Knien. Als mein Blick auf die wächsernen Lippen und die geschlossenen Lider fiel, überrollte mich die Sorge, die ich bisher kategorisch aus meinen Gedanken verbannt hatte, wie eine
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