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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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war.
    Lauf, formten seine Lippen in der Sekunde, bevor der Stab mit solcher Wucht auf seinen Hinterkopf krachte, dass er zersplitterte. Ich sah noch, wie Marian die Augäpfel nach innen verdrehte, als er bewusstlos zusammenbrach, dann stürme ich auch schon los, getrieben von einem einzigen Gedanken: Ich muss den Weißen Löwen beschützen. Irgendwie. Koste es, was es wolle.
    Zuerst hielt ich auf die Treppe zu, wo noch immer die Schattenreiter mit Fluvius Grindeaut in ihrer Mitte standen und Wache hielten. Achtlos stießen sie den Großmeister auf den Felsvorsprung und wandten sich mir zu. Mit ruckenden Köpfen fixierten sie mich, zwei breitschultrige Schattenreiter mit Raubvogelzügen, an denen ich niemals vorbeikommen würde, zumindest nicht ohne meine Waffe, die noch immer irgendwo am Rand des Plateaus lag.
    Blitzschnell änderte ich die Richtung, schlug einen Haken und warf mich nach links. Zu den Seiten hin wurde das Felsplateau deutlich schmaler, ein kaum einen halben Meter breiter Vorsprung, der einmal um den lackschwarzen See herumzuführen schien. Das andere Ende der Grotte lag im Schatten, doch ich erkannte eine Nische im Gestein. Vielleicht gab es dort ja einen weiteren Ausgang? Das zumindest hoffte ich.
    Mit dem Rücken zur Wand schob ich mich vorwärts, so schnell ich konnte. Am Rande des Plateaus lag Marian, reglos und blass. Sein Anblick schnürte mein Innerstes zusammen. Bitte, lass ihn nicht tot sein, dachte ich und blinzelte die Tränen fort, die mir in die Augen getreten waren. Zwar hatten die Schattenreiter ihren Posten am Fuß der Treppe nicht verlassen und auch der Bettler stand einfach nur da und sah auf den See hinaus, doch der Kanzler folgte mir. Ebenso wie Fluvius Grindeaut. Beide balancierten hinter mir über den Vorsprung. Einholen würden sie mich glücklicherweise nicht so leicht. Ich war viel kleiner als die beiden und kam schon allein deswegen deutlich schneller voran. Ein Viertel des Sees hatte ich bereits umrundet und zwischen mir und meinen Verfolgern lagen mehrere Meter Abstand.
    »Bleib stehen, Flora«, rief Fluvius Grindeaut, dessen Gleichgewichtssinn ihn augenscheinlich im Stich ließ. Immer wieder taumelte er und musste sich an der Wand festhalten. »Dieser Stein ist das mächtigste Objekt, das die Schattenwelt seit Jahrhunderten gesehen hat. Er gehört nicht in die Hände eines Kindes. Du weißt doch gar nicht, was du tust!«
    »Dieser Stein ist ein Teil von mir, okay?«, schnaubte ich und schob mich weiter voran, setzte immer einen Fuß vor den anderen.
    »Warum? Weil er ausgerechnet am Tag Ihrer Geburt vom Himmel fiel?«, fragte der Kanzler ungläubig. »Das war doch nur ein Zufall. Wissen Sie, was an meinem 300. Geburtstag passiert ist? Das Nichts hat einen ganzen Stadtteil verschluckt. Na und? Das hatte sicher nichts mit meiner Person zu tun.«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelte ich kaum hörbar und hielt inne. Das Sims, auf dem ich mich bewegte, war zusehends schmaler geworden und maß jetzt nur noch wenige Zentimeter. Bald wäre es nicht einmal mehr breit genug, um einen Fuß daraufzusetzen. Fieberhaft suchte ich das Gestein nach Vorsprüngen und Tritten ab. Bis zum anderen Ufer war es schließlich nicht mehr weit, nur noch ein paar Schritte. Doch die Felswand war viel zu glatt, um darin Halt zu finden.
    Fluvius Grindeaut und der Kanzler holten rasch auf. Innerhalb weniger Sekunden verlor ich die Hälfte meines Vorsprungs.
    »Komm schon, Flora«, sagte der Großmeister und sah mir in die Augen. Überraschend klar begann er zu sprechen: »Ich weiß, man hat dir schon als Kind vom Weißen Löwen erzählt. Über viele Jahre hinweg hast du all deine Hoffnungen und Sehnsüchte, alles, was dir in deinem Turm fehlte, auf den Stein projiziert. Und in deiner Vorstellung verkörpert er sie noch immer. Aber so ist es nicht. Der Weiße Löwe hat nichts mit dir zu tun, Flora. Nicht das Geringste.«
    »Das ist nicht wahr«, sagte ich leise, obwohl ich spürte, dass der Großmeister in diesem Augenblick glaubte, was er sagte. Meine Hand schmerzte bereits, so verkrampft hielt ich den Stein in meiner Faust umschlossen. Meinen Stein, der ein Teil von mir war. Schließlich konnte ich ihn fühlen, oder etwa nicht? Er war für mich wie ein lebendiges Wesen. Nein, Fluvius Grindeaut musste sich irren. Plötzlich war ich mir sicher.
    »Der Weiße Löwe und ich gehören zusammen«, erklärte ich mit fester Stimme. »Deshalb werde ich ihn vor euch beschützen.« Mein Blick wanderte

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