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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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die Augen weit aufgerissen und Schweißtropfen rannen über ihre narbige Stirn. Ihr Atem ging stockend. Mit zwei Schritten war ich bei ihr.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich und legte meine Hand auf ihren Unterarm. Amadé erzitterte unter der Berührung, doch sie nahm mich kaum wahr. Noch immer klebte ihr Blick an der Stelle unten in der Eingangshalle, von der der Kanzler zu uns heraufgesehen hatte.
    »Amadé?« Ich rüttelte sie, bis sie mich überrascht ansah. »Geht es dir gut?«
    Sie schüttelte den Kopf. Doch ehe ich genauer nachfragen konnte, zuckte sie mit den Achseln, kramte etwas aus der Tasche ihres Kleides hervor und drückte es mir in die Hand.
    Es war ein Kieselstein von der Größe einer Faust. Und seine dunkle Maserung formte ein Wort. Komm.
    Ich runzelte die Stirn. »Was ist das?«
    Amadé deutete auf den Stein, dessen Maserung nun in Bewegung geraten war und neue Worte bildete. Ein Materienkiesel, stand dort und dann: Mein Vater hat ihn mir gegeben.
    Ich blickte von dem Stein auf Amadé und wieder zurück.
    Amadé nickte. Komm mit, schrieb die Maserung. Ich zeige dir etwas.
    Amadé führte mich durch Gänge und Treppenhäuser. Ich hatte keine Ahnung, was sie mir zeigen wollte, und sie weigerte sich, es mir zu sagen. Stattdessen hielt sie meine Hand in ihrer, die eiskalt war, und bahnte sich mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin ihren Weg durch das verwirrende Labyrinth der Flure. Ich hingegen hatte schon längst die Orientierung verloren. Nur eines begriff ich: Es ging abwärts. Und je tiefer wir kamen, umso mehr veränderte sich unsere Umgebung. Dunkelheit und Kälte nahmen zu, die Wände wurden kahler, der Boden unebener.
    Unser Atem stieg in Wölkchen vor uns auf, während immer wieder Wasser in dünnen Rinnsalen an den grob behauenen Steinquadern um uns herum hinabrieselte. Ich überlegte, ob ich nicht irgendwann mal gehört hatte, dass es unter Notre-Dame Katakomben gab. Ich war mir fast sicher und erwartete deshalb hinter jeder Biegung einen Haufen Schädel zu entdecken. Allerdings waren wir mittlerweile schon recht lange unterwegs, ohne auch nur einen Fingerknochen zu sehen. Gebeine und halb vermoderte Leichen schien es hier unten also eher nicht zu geben und es roch auch nicht schimmelig oder so. Zum Glück.
    Doch da war noch diese andere Sache, die mir Sorgen bereitete. Denn üblicherweise waren Katakomben nicht einfach Keller unter einem Gebäude, sondern erstreckten sich sogar recht weitläufig unter dem Gebiet einer Stadt.
    »Soweit ich weiß, wäre es nicht gerade klug von mir, Notre-Dame zu verlassen«, sagte ich deshalb nach einer Weile in die Stille hinein. Meine Begegnung mit dem Schattenreiter am Nachmittag steckte mir noch gewaltig in den Knochen, sodass ich es möglichst vermied, darüber nachzudenken. »Draußen in der Stadt sucht man nach mir.«
    Amadé hielt inne und deutete auf eine Gabelung vor uns. Dort gibt es zwar einen Ausgang, las ich im Licht der Fackeln, die alle paar Meter in Halterungen an der Wand steckten, aber wir nehmen den linken Gang.
    »Und bleiben damit innerhalb Notre-Dames?«, fragte ich.
    Ja.
    »Warum sagst du mir nicht, wo wir hingehen?«
    Überraschung. Amadé lächelte verschwörerisch, wurde jedoch schon im nächsten Augenblick wieder ernst und zog mich in eine Nische.
    »Was ist denn?«
    Sie legte den Finger auf die Lippen. Jemand kommt. Gemeinsam spähten wir um die Ecke. Auch ich hörte jetzt Schritte, ein dumpfes Pochen auf dem Fels, das von Eile kündete. Und dann tauchte er auf, unvermittelt aus einem Quergang.
    Marian.
    Er trug einen langen Mantel, dessen Kapuze er sich bis über die Augen gezogen hatte. Trotzdem erkannte ich ihn. Daran, wie er ging, und daran, wie er sich immer wieder umsah, als er die Weggabelung erreichte und sich dann für den rechten der beiden Gänge entschied. Anscheinend fürchtete er, von jemandem gesehen zu werden. Ich schluckte. Er schlich sich hinaus.
    »Wohin geht er?«
    Amadé zuckte mit den Achseln und klopfte sich den Schmutz von ihrem Kleid.
    »Kann er denn nicht einfach den Vorderausgang nehmen, wenn er nach draußen will? Oder darf er das nicht?«
    Doch. Niemand wird in diesen Gemäuern festgehalten.
    »Dann will er nicht, dass jemand sieht, dass er geht«, murmelte ich.
    Amadé nickte. Wahrscheinlich, flackerte es über den Materienkiesel. Dann zog sie mich weiter.
    Etwa zwanzig Minuten später erreichten wir endlich unser Ziel, einen Ort, so wundersam, dass es mir die Sprache verschlug. Unvermittelt

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