Stadt aus Trug und Schatten
noch zu hören und auch die Sichel in meiner Hand fühlte sich wieder kühl und schwer an. Sie war nicht länger blau, sondern hatte sich zurück in einen unscheinbaren silbernen Bogen verwandelt. Das Geschenk des Bettlers hatte mich gerettet! Wieso nur hatte Barnabas mir etwas derart Wertvolles überlassen?
Ich steckte den Glücksbringer weg, unfähig, meinen Blick von den brennenden Körpern abzuwenden, die in rasender Geschwindigkeit zerfielen, bis nur noch zwei Aschehäuflein und ein hässlicher Abdruck auf dem Boden von ihnen zurückblieben. Ich taumelte, musste mich an der Wand abstützen. Kalter Schweiß rann mir über die Stirn, ich spürte erneut Übelkeit in mir aufsteigen.
Am Eingang der Unterführung tauchte ein blonder Schopf auf. »Da bist du ja! Gott sei Dank, du hast ihn abgehängt und dich versteckt!«, rief Marian und stürzte auf mich zu. Seine Arme umschlangen mich und pressten mich an ihn, dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und bedachte mich mit einem Blick, der nichts mehr mit Freundschaft zu tun hatte. »Hey, du zitterst ja! Ist alles okay mit dir?«
Mühsam brachte ich ein Nicken zustande, während Marian mich an sich zog und festhielt. Ich barg meinen Kopf an seiner Brust, im Augenblick einfach nur froh, nicht mehr allein an diesem grauenhaften Ort zu sein.
»Ganz ruhig«, flüsterte Marian in mein Haar. »Jetzt bin ich ja da. Ich passe auf dich auf.«
Er strich mir über den Rücken und ich begann zu schluchzen. So standen wir eine ganze Weile, er hielt mich und ich weinte in den Stoff seines Pullovers.
Bis Marian sich plötzlich versteifte. Genau wie in der letzten Nacht ließ er mich so abrupt los, dass ich erschrocken zurücktaumelte. Rasch blinzelte ich die Tränen fort.
»Ich … ich kann das so nicht«, stieß Marian hervor. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Mit bebenden Schultern stand er da. In seinem Blick sah ich, was er dachte, bevor er es aussprach. »Du bist nicht meine Flora. Aber du siehst ihr so verdammt ähnlich, dass ich das immer wieder vergesse.«
Ohne Vorwarnung hieb er mit solcher Wucht gegen die Betonwand der Unterführung, dass die Haut seiner Fingerknöchel aufplatzte. Er keuchte. Feine Blutstropfen rannen auf den schmutzigen Boden.
Ich starrte auf die rötlichen Flecken. »Das … hatten wir doch geklärt, dachte ich.«
Marian zuckte mit den Schultern. »Theoretisch schon. Aber praktisch funktioniert das mit unserer Freundschaft nicht. Merkst du das denn nicht? Wir sollten es lassen.«
»Was lassen?« fragte ich, doch Marian hatte sich bereits umgedreht. Mit langen Schritten eilte er davon und ich blieb zurück mit einem schwarzen Aschefleck zu meinen Füßen und roten Spritzern, die ihn durchzogen.
10
DER EISERNE KANZLER
In der Nacht erhielt Fluvius Grindeaut einen Besuch, den er nicht erwartet hatte. Der Gast, der niemals zuvor persönlich beim Grauen Bund gewesen war, entstieg einem Zeppelin mit schwarz lackierter Außenhaut und versetzte ganz Notre-Dame in helle Aufregung, sobald er den ersten Schritt in die verspiegelte Eingangshalle tat. Beinahe wäre das Dienstmädchen, das ihm die Tür geöffnet hatte, bei seinem Anblick in Ohmacht gefallen. Sofort wurde der Großmeister gerufen, doch auch viele andere Bewohner der Kathedrale ließen es sich nicht nehmen, einen Blick zu erhaschen. Noch ehe Fluvius Grindeaut selbst in der Halle eintraf, hockten Kämpfer wie Dienstboten bereits Seite an Seite hinter dem Geländer der Galerie und spähten zwischen den Spiegelsäulen nach unten.
Auch ich hatte mich zu den Schaulustigen gesellt, obwohl ich keinen Schimmer hatte, wer dieser Eiserne Kanzler, wie die anderen den Gast nannten, war und was an ihm so besonders sein sollte. Allerdings hatte mich allein das Getuschel, das mitten im Dämmerungstraining ausgebrochen war, neugierig gemacht. Da Madame Mafalda der Übungsstunde wegen ihrer Migräne ferngeblieben war, hatte es nicht lange gedauert, bis die Kämpfe eingestellt worden waren und jeder, den es danach verlangte, in Richtung der Eingangshalle gestrebt war, ein Funkeln in den Augen, als wäre Weihnachten. Warum alle so aus dem Häuschen waren, begriff ich jedoch erst, als ich den Gast mit eigenen Augen sah. Zwischen Arkon und einem jungen Mann mit Segelohren kniete ich auf den Spiegelfliesen und betrachtete den Eisernen Kanzler, der ganz anders aussah, als sein Titel es vermuten ließ.
Das Erste, was mir an ihm auffiel, war seine Jugend. Der Mann, der dort unten mit einem löwenknäufigen
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