Stadt der blauen Paläste
gelesen hat meine Tochter vielleicht in ihrem ganzen Leben zehn Bücher«, empörte sich Crestina und ließ sich auf einer der Truhen nieder.
Margarete lachte.
»Du übertreibst maßlos. Sie liest nicht die Bücher, die du liest, nicht Horaz und nicht Vergil, das stimmt, aber du kannst sie gerne über Südarabien abfragen, über die Sandstürme in der Wüste, was man da beachten muss und wie viele Wasserschläuche man braucht, um zu überleben. Sie studiert Berichte von Reisenden, die in diesen Ländern waren, lernt Arabisch und sogar irgendwelche Dialekte, von denen ich keine Ahnung habe. Aber ich hoffe, sie werden uns nützen. Frag sie, welche Kleider wir uns besorgen müssen, wie unsere Zelte aussehen werden.«
»Zelte?« Crestina spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Du willst meine Tochter in Zelten übernachten lassen?«
»Nun, was glaubst du denn, wo wir schlafen werden? In Gasthöfen mit Kaminen und geheizten privaten Schankräumen? Du hast doch gewollt, dass ich sie mitnehme, oder etwa nicht?«
»Aber ich wollte keinesfalls, dass sie in Zelten schläft. Und«, Crestina lachte auf, »du darfst auch ganz sicher sein, dass sie dir da einen Strich durch die Rechnung machen wird.«
»Das wird sie ganz gewiss nicht. Frag sie doch, wie der nächste Ort heißt, wenn wir Venedig verlassen.«
»Und? Welcher wird es sein?«
»Das weiß ich nicht«, lachte Margarete, »auf jeden Fall wird es kein Gasthof sein, in dem wir übernachten. Wir übernachten in Zelten, bereits jetzt, damit sie sich gleich von Anfang an die Unbill des Lebens gewöhnen kann.«
»Das wird sie ganz gewiss nicht tun«, sagte Crestina siegesgewiss. »Ihre Ansprüche sind grandios, und wenn es früher, als wir unterwegs waren, bei irgendeiner Unterkunft nicht ganz genauso war, wie sie es sich vorgestellt hatte, hättest du hören sollen, was sie ihrem Bruder Clemens, der bei uns für Reisen zuständig war, alles an den Kopf warf. Die Bettwäsche klamm, die Matratzen klumpig, die Kerzen verrußt, die Schankräume dreckig.«
»Die Route auf dieser Reise, zunächst nach Nürnberg, hat sie ausgesucht. Nicht ich. Ich überprüfe es später nur. Das heißt, dann, wenn wir endgültig losreisen ins Weihrauchland.«
Crestina erhob sich schwerfällig von ihrer Truhe.
»Allmählich habe ich das Gefühl, dass ich so ziemlich alles falsch gemacht habe bei der Erziehung dieser Tochter«, stellte sie nach einer Weile fest. »Darauf läuft es doch hinaus, oder?«
Margarete zuckte mit den Schultern.
»Du hast ihr nie etwas zugetraut, du hast sie nie gefordert, ihr nie Verantwortung übertragen. Sie kam sich in dieser Familie bisher als ein nutzloses Objekt vor, dem nichts anderes übrig blieb, als sich Messerstiche auszudenken, damit man sie überhaupt beachtet. Für dich natürlich am meisten.«
»Ich bin nach dem Tod von Renzo aus Konstantinopel fortgezogen, weil ich Sorge hatte, dass meine Tochter dort irgendwann einmal den feurigen Blicken junger türkischer Männer verfällt. Wo hätte sie dabei lernen sollen, wie es ist, Verantwortung zu übernehmen?«
»Nun, den feurigen Blicken junger türkischer Männer ist sie hier in Venedig ja nicht unbedingt verfallen«, sagte Margarete spöttisch und wandte sich zum Gehen, »aber ich denke, Moise, Kashrut und der Kabbala zu verfallen war schlimmer.«
Das Gespräch in den nächsten Tagen beim Abendessen, das seit Biancas Weggang entschieden an Lebendigkeit verloren hatte, ließ Crestina ihre Trübsal dann allerdings fast wieder vergessen. Sie hatten inzwischen ein Thema, das unerschöpflich schien: das Thema Gondelbau.
»Wusstet ihr eigentlich, wie viele Gondeln es in unserer Stadt gibt?«, konnte Ludovico fragen und dann ohne Pause sich selber die Antwort darauf geben. »Fast fünfhundert. Und wisst ihr, was eine dieser Gondeln kostet?«
»Nun, sicher weniger als eines von unseren Schiffen«, vermutete Clemens.
Ludovico lachte triumphierend.
»Mehr als dreißigtausend Zechinen. Und wisst ihr auch, wie lang Gondeln sind? Fast elf Meter lang und sie sind ein Meter zweiundvierzig breit. Sie wiegen vierhundert bis fünfhundert Kilo, und sie sind asymmetrisch gebaut, weil die Gondoliere sie sonst nicht geradeaus rudern könnten.«
Clemens lachte lauthals.
»Ich denke, du solltest dich darauf einstellen, dass dein zweiter Sohn eines Tages ein Gondelbauer sein wird. Es wäre sicher jammerschade, wenn solch ein profundes Wissen verloren geht.«
»Es gibt keine Lehrstellen. Die Gondelbauer sind
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