Stadt der blauen Paläste
Vater auf eines der Schiffe mitgenommen worden war, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dort oben zu sitzen. Eine Herrin der Meere zu sein, dem Himmel nah, aber anders, als es Jacopo ständig gepriesen hatte. Bei jeder Influenza hatte die Dienerschaft hören müssen, dass er nun dem Himmel nah sei und demnächst wohl über den Jordan gehe. Er hatte Bilder von Flöhen gesammelt, abgezeichnet, ausgesucht, und Mappen voll davon in seiner Truhe aufbewahrt. Besonders Anna hatte das nur noch zu wildem Lachen gebracht, in der Meinung, dass in Jacopos Kopf nicht mehr alles in Ordnung sein könne.
Als sie jetzt in die Wanten stieg, Fuß um Fuß höher setzte, das Gesicht nach oben gewandt, nie nach unten, wie Renzo befohlen hatte, wusste sie sich geführt. Als ginge eine unsichtbare Leine von dieser Maske dort unten zu ihr empor, halte sie fest und verhindere ihren Fall in die Tiefe. Es war ein Gefühl der Befreiung, wie sie es nie zuvor gefühlt hatte. Sie stieg höher, noch höher, erreichte den Korb, ergriff ihn, nicht wie einen Rettungsanker, sondern wie ein Stück Freiheit, das ihr soeben in dieser Minute geschenkt wurde. Sie kletterte auf den Sitz und blickte empor. Die Sonne begann soeben unterzugehen. Sie sank langsam, nicht rasch, wie sie wusste, dass es in den Tropen geschah. Sie hatte Zeit, sich umzusehen. Sie sah die Stadt ganz langsam im Dunkel versinken, als ginge sie unter wie einst vor Jahrhunderten die Insel Malamocco. Der Himmel wurde milchig, schien herabzuschweben, verwischte sich dann mit der Erde, ließ den Unterschied zwischen beiden verschwinden. Und sie hatte das Gefühl, dass das, was ihr drei Tage zuvor bei der blauen Madonna in Torcello nicht gelungen war, in diesem Augenblick stattfand.
Mit dem Gesicht zu den Wanten stieg sie zurück. Die Maske wartete unten, reichte ihr nicht die Hand, sondern ging stumm voraus und führte sie in einen Raum, der vermutlich der Raum des Patrons war. Sie legte das Gewand des Matrosen ab und schlüpfte in das andere Gewand, das dort lag. Es war passend zu der Maske des Poseidon und sollte vermutlich die Frau des Poseidon, Amphitrite, darstellen oder ganz einfach eine Meerjungfrau. Der Salon, über den sie sich wunderte, war bescheiden.
»Mich interessiert der Luxus holzgetäfelter Räume nicht«, erklärte Renzo. »Ich brauche Räume, die ich benutzen kann. Sie müssen nicht unbedingt hässlich sein, aber ich verwende gewiss nicht das teuerste Holz, das ich bekommen kann.«
Das Gespräch bei diesem Essen war seltsam karg. Es war, als hing das Ende dieses mehr als seltsamen carnevale bereits wie das Schwert des Damokles über ihnen und war bereit, auf sie herabzufallen. Es war ihr klar, dass sie sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte, von dem sie nicht wusste, wie es ausgehen würde. Vermutlich wusste es dieser Salzhändler Renzo Grimani genauso wenig. Und sie konnte sich nicht vorstellen, wozu er dies alles veranstaltet hatte, wenn er das Ganze auslaufen lassen wollte, ohne irgendein Ziel dabei zu verfolgen. Natürlich konnten sie sich am Kai verabschieden, freundlich, mit Maske, ohne Maske, sie als Matrose, er als Salzhändler. Sie konnten miteinander durch die Stadt gehen, durch die Berge voller Abfälle, jeder in sein Heim, wobei sie nicht einmal wusste, wo er eigentlich wohnte. Gewiss keinesfalls in der alten Salzhütte oder in dem halb zerfallenen Palazzo. Und natürlich konnte alles auch damit enden, dass sie nicht in der Hängematte schlief, sondern in irgendeinem Bett, das es auf dieser Kogge gewiss gab, auch wenn sie bisher keines gesehen hatte.
Als das Essen irgendwann zu Ende war, stand Renzo auf. Er ging zu einem Regal an der Wand, nahm eine Spieluhr vom Brett.
»Sie stammt von meinem Großvater«, erklärte er dann. »Er war ein Mann der Experimente, und er beschäftigte sich mit Uhren. Wie Ihr seht, hat es hier eine ganze Menge davon. Ich traue ihm zu, dass es ihm auch gelungen wäre, diese Spieluhr zu machen, aber sie stammt aus anderen Ländern. Als Kind habe ich zum Einschlafen immer diese Melodie hören dürfen, ich hörte sie so oft, dass ich sie nun auch ohne weiteres singen könnte, aber sicher gefällt sie Euch besser, wenn wir sie hören und dazu tanzen.«
Er drehte die Uhr auf, reichte ihr dann den Arm. Wenn sie es hätte beschreiben müssen, so hätte sie nur sagen können, dass sie tanzten. Irgendwie fehlten ihr die Worte, um das auszudrücken, was sie in diesen Augenblicken empfand. Sie nahm nicht einmal wahr, dass
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