Stadt unter dem Eis
bedrohliche Seitenansicht der Constellation in der Morgendämmerung am Horizont zeigte.
»Mist«, sagte Warren. MSNBC und die anderen Nachrichtensender würden bestimmt mit ähnlichen Nachrichten nachziehen. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. »Zum Teufel mit Griffin Yeats.«
10
Entdeckung plus 24 Tage, 16 Stunden
Serena saß auf ihrer Pritsche und lauschte dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft und weiß Gott was sonst noch in die eisige Zelle bliesen. Ihr war kalt. Bilder, die sie zu verdrängen gelernt hatte, waren nach der Begegnung mit Conrad wieder aufgetaucht. Jetzt, wo sie sich mit den Armen ihren Körper umschlang, um sich warm zu halten, kam die Erinnerung an ihr letztes Zusammensein wieder hoch.
Es war im März gewesen, sechs Monate nachdem sie sich zum ersten Mal auf einem Symposium der mittelamerikanischen Archäologen in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, getroffen hatten. Damals war sie noch Nonne gewesen. Sie sahen sich fast täglich und arbeiteten Seite an Seite an einem Forschungsprojekt in der untergegangenen Stadt Tiahuanaco hoch oben in den Anden.
Conrad Yeats war intelligent, attraktiv, geistreich und sensibel. Er besaß mehr Geistigkeit als ihre Kollegen aus Rom, und was sie am meisten an ihm mochte, war die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Beruf ausübte. Einige fanden seine unorthodoxen Theorien über die Urkultur bedrohlich, aber sie fand sie aufregend, weil sich vieles mit ihren eigenen Studien in Sachen Mythologie deckte. Conrad und sie kamen trotz unterschiedlicher Ansätze zu der gleichen Schlussfolgerung; er betrachtete alles aus Sicht der Archäologie und sie aus der Sicht der Sprachwissenschaft.
Am letzten Abend des Feldstudienprogramms lud er sie ein, an einer ›Offenbarung‹ auf dem Titicacasee teilzuhaben, zwölf Meilen von Tiahuanaco entfernt.
Ein merkwürdiger Ort des Abschieds, dachte sie, als sie am Ufer entlangging. Es herrschte ein reges Treiben von Einheimischen und Touristen, die bei Sonnenuntergang in den Tavernen Bier tranken.
Wie eine Erscheinung aus Tiahuanaco tauchte auf einmal ein gut aussehender, braun gebrannter Conrad in einem eleganten Boot aus Schilfrohr auf. Das Boot kam von der Insel Suriqui. Es war vier Meter lang, aus Papyrusrohr geflochten, mit einem breiten Mittelschiff und schmalen hohen Enden. Die Schilfbündel waren mit festen Schnüren zusammengebunden.
»Kommt Ihnen dieses Boot bekannt vor?«, fragte er, als er sie aufforderte, an Bord zu kommen. »Zur Zeit der Pyramiden segelten die Pharaonen in denselben Papyrus-Booten den Nil hinunter.«
»Und vermutlich, Doktor Yeats, können Sie auch erklären, warum die erstaunlich ähnliche Machart an zwei derart unterschiedlichen Orten auftaucht?«, fragte sie und ging damit auf sein Spielchen ein.
Das gehörte zu den vielen Geheimnissen des Titicacasees, erklärte er ihr in bester Fremdenführermanier und lud sie ein, mit auf den See zu fahren, um seine ›Offenbarung‹ zu erleben.
Sie lächelte. Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was das für eine Offenbarung war. »Auf dem See gibt es nichts, was Sie mir nicht auch hier zeigen könnten.«
»So weit würde ich nicht gehen«, sagte er.
Sie hätte nicht mitkommen sollen. Nonnen reisten grundsätzlich nur zu zweit und befanden sich bei geschlossener Tür nie allein mit einem Mann im Zimmer. Nicht aus Angst oder Paranoia, sondern des Rufes wegen. Keinerlei unanständiges Verhalten durfte die Sache Christi besudeln.
Aber wie immer setzte Conrad seine ganze Überredungskunst ein. Schließlich konnte sie ihm nicht widerstehen.
Er paddelte mit langen, kräftigen Schlägen. Sie glitten über die silberne Oberfläche dahin. Mit 3.812 Metern über dem Meeresspiegel war der Titicacasee der am höchsten gelegene See der Welt. Und so empfand sie es auch. Serena hatte das Gefühl, sie könnte den Himmel berühren.
»Das Merkwürdige an dem See ist, dass er über zweihundert Kilometer vom Pazifik entfernt liegt und doch eine Vielfalt an Meerestieren aufweist: Seepferdchen, Schalentiere und auch Meerespflanzen«, dozierte Conrad augenzwinkernd.
»Sie glauben also, dass es sich um Meereswasser handelt, das von der Sintflut übrig geblieben ist?«
Conrad zuckte die Achseln. »Als das Wasser zurückging, staute sich hier in den Anden ein Teil davon auf.«
»Das erklärt vermutlich auch die Hafenanlagen von Tiahuanaco.«
Conrad lächelte. »Genau. Warum sonst sollten die Überreste der zwölf Meilen entfernten Stadt Hafenanlagen
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