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Stadt unter dem Eis

Titel: Stadt unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Greanias
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aufweisen?«
    »Es sein denn, die Stadt war früher einmal selbst ein Hafen, nämlich wenn der See nach Süden hin 12 Meilen länger und 35 Meter höher war«, schloss Serena. »Was bedeuten würde, dass hier vor der großen Flut eine Kultur geblüht hat und Tiahuanaco somit mindestens 15.000 Jahre alt ist.«
    »Stellen Sie sich das mal vor!«
    Sie konnte es sich genau vorstellen. Sie wollte es jedenfalls. Eine Welt vor Anbruch unserer Geschichtsschreibung. Wie mochte sie ausgesehen haben? Hatten sich die Leute sehr von den Menschen heute unterschieden? Bestimmt hatte es Frauen wie sie gegeben und Männer wie Conrad, dachte sie. Er hatte seine skeptische Miene abgelegt und war richtig offen geworden. Ganz anders als bei seinem Auftreten bei den Wissenschaftlern.
    Die Nachtluft war kühl, und Serena hatte sich vorn ins Boot gekauert. Conrad paddelte langsam dahin. In der Dämmerung war der Himmel von einem herrlichen Türkisblau. Der gläserne See streckte sich bis in die Ewigkeit.
    Die meiste Zeit glitten sie schweigend am Schilf entlang. Nur das leise Plätschern des Paddels beim Eintauchen klang wie ein Metronom aus der Vorzeit. Auf einmal zog Conrad das Paddel mitten auf dem glitzernden See ein und ließ das Boot unter dem Sternenhimmel treiben.
    »Was ist los?«, fragte sie.
    »Nichts.« Er zog einen Picknick-Korb und Wein hervor. »Absolut nichts.«
    »Conrad, wir sollten jetzt zurückfahren. Die Schwestern werden sich Sorgen machen.«
    »Sollen sie doch.«
    Er setzte sich neben sie, gab ihr einen Kuss und drückte sie sanft nach hinten, bis sie im Boot lag. Er streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Ein Schauer überkam sie.
    »Conrad, bitte.«
    Sie sahen sich in die Augen, und sie musste an seine schmerzvolle Kindheit denken, an seine Familienverhältnisse. Wenn es jemals einen Mann geben sollte, dem sie sich hingab, eine Situation in ihrem Leben, einen Ort auf diesem Planeten, dann war der Augenblick jetzt gekommen, dachte sie.
    »Morgen gehe ich nach Arizona zurück und du nach Rom«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir werden die letzte Nacht in Bolivien in Erinnerung behalten, die Nacht, die niemals stattgefunden hat.«
    »Und niemals stattfinden wird«, sagte sie und stieß ihn über Bord. Mit Genugtuung hörte sie das Platschen.
    ***
    Auch Conrad dachte in seiner Kabine an die Nacht damals mit Serena im Boot, während er seine Ausrüstung für den bevorstehenden Abstieg in die P4 packte. Er hatte vor ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut immer Ehrfurcht empfunden. Und ihre Schönheit suchte ihresgleichen. Dennoch ging sie so selbstverständlich damit um, als wäre es ihr egal, ob sie siebzehn oder siebzig war. Sie war charmant und zurückhaltend, ja sogar witzig. In jener Nacht hatten ihn ihre strahlenden Augen unter dem dunklen Haar verzaubert und sein Herz erwärmt.
    Sie hatte ihm gestanden, seine Klarheit und Zielstrebigkeit immer bewundert zu haben. Er wäre sich immer treu geblieben, sagte sie, anders als sie, die immer etwas vortäuschte. Er hatte sich damals gefragt, welch dunkles Geheimnis sie ihm wohl mitteilen wollte, und stellte dann fest, dass es gar keines gab. Ihre einzige Sünde bestand darin, ein ungewolltes Kind gewesen zu sein.
    Einen flüchtigen Augenblick lang war er ihr damals sehr nahe gekommen. Da hatte er ihre religiöse Todessehnsucht verstanden und ihren Drang, eine Märtyrerin, eine Heilige, eine bedeutende Frau zu sein. Ihr wohltätiges Handeln war ihr Weg, Beziehungen zu vermeiden. Sie fürchtete, ›ertappt‹ zu werden und so ihren Ansprüchen – und den Erwartungen Gottes – nicht gerecht zu werden. Gefühlen wie ›nicht gebraucht zu werden‹, ›wertlos‹ zu sein, der ›Irrtum‹, überhaupt auf der Welt zu sein, versuchte sie mit aller Kraft zu entkommen. Aber sie hatte keine Angst davor, dass er sie zurückweisen könnte. Sie wusste, dass er sie liebte.
    Und da hatte er gemerkt, dass auch sie ihn innig liebte.
    Damals hatte er das Gefühl, dass seine lebenslange Suche nun beendet war, dass er den Gottestempel gefunden hatte. Die Tatsache, dass er in ihr heiliges Geheimnis eingebrochen war und sich nahm, was ihm nicht gehörte, machte diese Erfahrung nur noch aufregender und gefährlicher, aber auch befriedigender, so als würde er ein Kunstwerk aus vergangener Zeit rauben.
    Als sie ihn dann aber aus dem Boot in das eiskalte Wasser des Titicacasees stieß, wusste er, dass es vorbei war. Sie lachte nicht, als er wieder an Bord kletterte. Es war kein

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