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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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auf Weihnachten haben. Auf die neuen Nachthemden, die man zu Weihnachten bekommt, und auf die Weihnachtslieder. Auf einen Weihnachtsbaum, Kerzen und darauf, dass man zu Hause sein darf.

WENN
ICH
ALLEIN bei mir zu Hause in Helsinki bin, suche ich das estnische Fernsehen und lasse es laufen, auch wenn kein Bild zu sehen ist, der Ton genügt mir. Wenn Hukka bei mir ist, mache ich das natürlich nicht, ich müsste dann begründen, warum ich ETV an habe, und dazu möchte ich Hukka nichts erklären und keine Fragen beantworten, auch wenn ich es könnte.
    Mutter hat mit mir kein Wort Estnisch gesprochen, nicht einmal aus Versehen. Kein einziges Wort an mich rutscht ihr heraus, auch wenn sie sonst manchmal finnisch und estnisch durcheinander spricht. Wenn sie mit anderen estnisch spricht oder die Leute ringsum estnisch sprechen, unterbricht sie deren Redefluss, stoppt das ganze Gespräch und fragt mich immer ausdrücklich, ob ich verstanden habe, sie fragt mich jahraus, jahrein und immer von Neuem, obwohl Estnisch meine zweite Muttersprache ist und ich sie trotz des Widerstands meiner Mutter gelernt habe, von allein, ich hatte mir die sterbende Sprache angeeignet und war nicht bereit, darauf zu verzichten, obwohl Mutter mir, wenn wir nach Finnland kamen, für jedes estnische Wort eine tadelnde Kopfnuss gab oder mir das Haar zauste, wenn es niemand sah. Mä kyllä tahaksin . Ein Schlag. Pianoläksyt oskasin hyvin . Ein Klaps. Syön yhden õunan . Eine Ohrfeige. Am schwierigsten ist es unmittelbar nach den Estlandreisen, wenn ich in der estnischen Sprache gelebt und sie so lange gehört habe. Ich beginne, bewusst zu sprechen, denke zuerst nach und äußere mich dann. Schließlich höre ich ganzauf, in Estland estnisch zu sprechen, dazu braucht es nicht viele Jahre, und so höre ich auf, die Sprachen zu vermischen. Aber manchmal denke ich auf Estnisch, und ich höre nicht auf, Estnisch zu verstehen, was Mutter mir nicht glaubt. Als Mutter zehn Jahre lang von mir kein Wort Estnisch gehört hat, bespricht sie die Dinge mit den Esten auf Estnisch und anschließend mit mir auf Finnisch, und wenn es um Dinge geht, die nicht für meine Ohren bestimmt sind, lässt sie die Übersetzung ins Finnische weg und bildet sich ein, ich hätte nichts verstanden. Ich lasse sie in dem Glauben und stelle mich dumm, und so bekomme ich viele lustige Geschichten zu hören, über mich und andere.
    Wenn in Estland Gäste kommen und ich schweige, weil ich nicht estnisch sprechen darf und es scheußlich finde, finnisch zu sprechen, wenn es nun einmal so ist, dass nur Mutter das versteht, wird Mutter gefragt, ob ich Estnisch spreche. Manchmal fragen die Leute auch mich selbst, aber Mutter antwortet für mich: Nein. Sie erklärt das mit der Vermischung der Sprachen und mit ihrer Ähnlichkeit. Dass es in Finnland so schrecklich sei, wenn ich im Sandkasten etwas auf Estnisch sage. Dass sie ihr Kind nicht als russisch brandmarken wolle, das in Finnland immer als Ryssä beschimpft würde, selbst wenn man es zusammen mit dem Weihnachtsschinken briete und mit Senf aus Turku servierte. In Finnland empfehle es sich nicht, mit seiner estnischen Herkunft zu prahlen. Und dann erzählt sie, was geschah, nachdem wir ein ganzes Jahr in Tallinn verbracht hatten. Obwohl ich in Tallinn mit Mutter nur finnisch gesprochen hatte, vergaß ich nach unserer Heimkehr in Finnland das Finnische vollkommen. Als wir durch den finnischen Zoll durch waren, fing ich an, estnisch zu sprechen. Eine solche Situation würde Mutter kein zweites Mal zulassen.
    Mutters Tante sagt geradeheraus, dass ihr Mutters Sprachpolitik nicht behagte, aber die anderen lächeln nur, obwohl sie befremdet dreinschauen und nicht verstehen, warumMutter ihr Kind in Finnland nicht als Estin brandmarken will. Die anderen verlieren kein böses Wort, weil sie ihren ausländischen Kontakt nicht gefährden wollen. Aber niemand glaubt es, als Mutter erzählt, dass der Finne den Esten für einen Russen hält, für einen Russen unter Russen. Damit hat Mutter freilich recht. Für die Finnen waren die Esten Russen. Lange Zeit. Ein großer Teil der finnischen Schüler hörte von der Existenz der Esten erst zu dem Zeitpunkt, als in der Schule die mit den Finnen verwandten Völker aufgezählt wurden. Dann staunten sie und johlten, dass fünfundachtzig Kilometer von Helsinki entfernt ein Volk lebte, von dem sie nichts gewusst hatten. Natürlich fuhren die linksgerichteten Familien mit ihren Kindern nach Tallinn, Sotschi und

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