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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Leningrad, aber für die anderen hätten diese Städte sich ebenso gut am Meeresgrund oder im Inneren des Mondes befinden können.
    Wenn in Finnland zufällig jemand von meinen estnischen Wurzeln erfuhr, kam immer als Erstes die Frage, ob ich Russisch könne, ob ich als Kind mit russischen Kindern gespielt habe und was für Spiele wir spielten. Was hat das, um alles in der Welt, mit meiner estnischen Herkunft zu tun? Warum fragte niemand, ob ich mit Esten gespielt habe? Ich denke doch auch nicht, dass jeder Finne Sámi oder Schwedisch sprechen kann. Diese Fragen waren unbegreiflich; als jemand, der nach den Estlandreisen halbwegs Estnisch sprach, war ich doch in Estland ein noch bunterer Vogel als in Finnland. Und warum hätte ich mit russischen Kindern spielen sollen, wenn unsere Verwandten und Bekannten Esten waren? Niemand aus unserer Familie sprach russisch oder brachte irgendwohin russische Bekannte mit, denn es gab keine. Es wäre vollkommen abartig gewesen, wenn Mutter in Estland zu Hause russisch gesprochen hätte, oder sonst jemand von den Menschen, die ich kannte. Außerdem hätte Mutter mir niemals Russisch beigebracht oder mich auch nur Russisch lernen lassen, noch weniger als Estnisch,obwohl sie es nicht vermocht hat, mich vor spassiba, pashálujsta, charaschó und nitschewó zu schützen. Ládna …
    Allerdings fragten in Estland aus irgendeinem Grund auch die Russen, mit denen wir zu tun hatten, Behördenvertreter oder Taxifahrer, Mutter immer gleich als Erstes, wenn sie mich sahen, ob ich Russisch spreche. Zwar fragten sie manchmal auch, ob ich Estnisch spreche, aber das war eine Art Nebenbemerkung, keine richtige Frage wie die nach meinen Russischkenntnissen. Mutter wurde jedes Mal böse. Auf dem Rücksitz des gelben Wolga. Auf den grünen Plüschstühlen bei der Registrierung der Pässe. Auf den mit rotem Kunststoff bezogenen Stühlen im Wartezimmer. Unter dem Bild einer führenden Persönlichkeit der Partei. Ihr Ärger war offenkundig, obwohl sie nur mit einem einzigen verneinenden, an den Milizionär oder den Taxifahrer gerichteten Wort antwortete, deren Gesichter das Lächeln des Vaters aller Völker lächelten.
    Die Angehörigen finnischer roter Familien dagegen konnten nicht begreifen, wieso ich nicht Russisch sprach. Die Begeisterung auf ihren Gesichtern, wenn sie erfuhren, dass Mutter Estin war! Ja, der Fanatismus. Jetzt, mehr als zehn Jahre später, wird mir klar, dass sie annahmen, Mutter und ich teilten die offiziellen politischen Auffassungen Sowjet-Estlands, daher all die befremdlichen Fragen und der erstaunliche Eifer. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Sowjet-Estland für uns nicht Teil des ersten sozialistischen Staates der Welt war, ein Beispiel, dem die ganze Welt folgen sollte. Dass die im Radio zu hörenden Hurra-Rufe beim Anschluss Estlands an die Sowjetunion nur so lange dauerten, bis das Zeichen gegeben wurde, sie zu beenden, dass die Beifallrufe nicht spontan waren, sondern in einem Drehbuch genau festgelegt und nach diesem Drehbuch ausgebracht worden waren. Dass alle Freude und alles Gute in der Sowjetunion genau diesem Schema folgten.
    Sie verstanden nicht, dass meine kleine, tapfere baltischeMutter, obwohl sie aus der großen und mächtigen Heimstatt der Völkerfreundschaft, der Sowjetunion, kam, eine weißblütige Patriotin war, die sich in den unteren Klassen der Schule nicht das rote Pionierhalstuch umband, wie sie es hätte tun sollen, sondern erklärte, es würge sie, und damit der Lehrerin einen fürchterlichen Schrecken einjagte. Was, wenn jemand gemeldet hätte, dass in der Klasse dieser Lehrerin derartige Dinge gesagt wurden? Dass die Lehrerin zum Antisowjetismus ermutige und eine Generation heranziehe, die für den Kommunismus gefährlich war? Die Lehrerin wollte nicht nach Sibirien.
    Deshalb erzog Mutter mich zum Schweigen. Weil die falschen Worte tödlich sein konnten. Aber das Schweigen, das Mutter mir einpflanzte, ist nicht das bezopfte Schweigen eines braven Mädchens. Es hat mit dem Schweigen eines kleinen Mädchens nichts anderes gemein als die Wortlosigkeit.
    Mein Therapeut findet es sehr merkwürdig, dass eine Mutter mit ihrem Kind nicht in ihrer eigenen Sprache spricht, nicht einmal zu dem Säugling, keinerlei Kinderverse, nur fremde Sprache, die einem noch nicht glatt von den Lippen geht und keine Gefühle erzeugt, die fremd ist und seltsam, und so ist die Sprache auch für das Kind fremd und seltsam. Ich war verdutzt. Ist sie seltsam? Mir war nie

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