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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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der Gedanke gekommen, dass es anders hätte sein müssen, aber als ich darüber nachdachte und mir die Sache gründlich überlegte, stellte ich fest, dass ich keine einzige mehrsprachige Familie kannte, in der man nicht gewollt hätte, dass das Kind die Sprache beider Eltern lernt. Gern wird sogar eine solche Sprache unterrichtet, die zwei Generationen zuvor die Muttersprache gewesen war.
    Und als ich in Finnland zum ersten Mal Kinder französisch und finnisch fließend durcheinander sprechen hörte, wurde mir klar, dass es keineswegs sonderbar ist, wenn einzweisprachiges Kind in seiner Rede Wörter aus beiden Muttersprachen mischt. Ich war gar keine Ausnahme. Es liegt nicht an der Ähnlichkeit der Sprachen. Und es führt nicht dazu, dass man als Erwachsener keine von beiden Sprachen vollkommen beherrscht, wie Mutter behauptete.
    Mutter entschied an meiner Stelle auch, dass ich, da ich im typischen Finnland aufgewachsen und dadurch bis in den letzten Winkel meines Herzens eine typische Finnin war, mich nicht an das Land zu erinnern brauchte, aus dem sie gekommen war, auch wenn wir dort Besuche machten, auch wenn sie sich dorthin zurücksehnte. Diese Reisen hatten ja nie stattgefunden, da wir zu niemandem in Finnland darüber sprachen. Ich sollte eine Finnin werden. Ich sollte sprechen und gehen wie eine Finnin, so aussehen wie eine Finnin, obwohl ich meinen Platz noch nicht gefunden hatte, irgendwie deplatziert war, wie in einem Mantel mit unterschiedlich langen und zu kleinen Ärmeln, in Schuhen, die bei jedem Schritt scheuerten.
    Außerdem befand ich mich in einer physisch unpassenden Gewichtsklasse. Du verstehst doch, dass du jetzt ein wenig darauf achten solltest. Anna versteht nicht, aber die Krankenschwester fragt noch einmal nach der Größe der Eltern und fordert sie auf, der Mutter den Zettel zu zeigen, auf dem Annas Größe und Gewicht vermerkt sind, obwohl Anna von vornherein weiß, dass auch Mutter den Zettel nicht verstehen, sondern nur sagen wird: Je offizieller die Sache, desto größer die Lüge.
    Es hat jedoch vierzehn Jahre gedauert, bis ich dahin kam, wo ich jetzt bin. Vierzehn Jahre Esstourismus, Essstundenpläne und Esskalender und Berechnen des Zeitverlaufs in Kilo und Kalorien. Einhellige Befürwortung des Kalorismus. Eine Treppenstufe zu erklimmen verbrennt angeblich zwei Kalorien, und eine Stufe hinunterzugehen nur eine Kalorie. Ein Schultag hat durchschnittlich dreihundert Stufen. Meine Freizeit war dominiert von der Beschäftigung mit Kilos in dem Jahr, da mein Längenwachstum aufhörte und die Krankenschwester sich Sorgen machte. Ich war damals eins sechzig groß und bin es noch heute. Meine Schuhgröße hatte sich schon Jahre zuvor verstetigt. Ich war das schwerste Mädchen meiner Klasse – das schwerste Mädchen in der Unterstufe. Dreiundfünfzig Kilo und eins sechzig. So wie meine Mutter, obwohl ich erst zehn Jahre alt war. Jetzt wiege ich weniger, aber auch mein Gewicht von damals war nicht zu hoch, ich hatte niemals das Gefühl, mir selbst zu schwer zu sein oder die falsche Größe zu haben, sondern nur, für meine Umgebung die falschen Maße zu haben. Ein klassischer Fall der Frauenkrankheit, die man als Essstörung bezeichnet. Der Körper einer erwachsenen Frau, die Psyche eines Kindes und die einzigen Brüste in der Klasse. Vielleicht war ich deswegen … physisch … nicht ebenso draufgängerisch wie meine Altersgenossen. Ich musste vorsichtig sein. Die ganze Zeit. Die Schultern nach vorn ziehen. Die Arme in die Hüften stemmen. Die Blusen mussten weit genug sein, je weiter, desto besser, keine auffälligen Muster auf der Brust, denn ich konnte nie wissen, hinter welcher Ecke Oskari hervorstürmen würde. Und Oskaris Freunde. Manchmal lauerte Oskari mir auf. Manchmal stieß ich zufällig auf ihn. Manchmal wartete Oskari einfach nur ruhig auf Anna, und die Lehrer lachten, Oskari mag das Mädel wohl. Das ist es. Das kennt man doch. Billigendes Lächeln. Bedeutungsvolle Blicke.
    Anna wagt es nicht, sich bei der Garderobe die Schnürsenkel zu binden, sondern nimmt die Schuhe in die Hand, schlüpft als Erste aus der Klasse, rennt ins Untergeschoss in die Mädchentoilette und zieht sich dort die Schuhe an, bindet die Schnürsenkel und horcht, wie die anderen hinausgehen, ob Oskaris Stimme zu hören ist, ob er schon weg ist, ob Oskaris fahnenrotes Hemd irgendwo auf dem Schulhofaufleuchtet, ob Oskari auf sie wartet, bestimmt tut er das, es sei denn, er glaubt, dass Anna für heute

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