Stalins Kühe
schon von der Schule nach Hause gegangen ist, dann eilt er ihr vielleicht nach und versucht, sie einzuholen.
Anna schaut auf die Uhr und wartet eine Viertelstunde. Keiner von Oskaris Freunden hätte die Geduld, noch länger zu warten, zu trödeln und sich auf dem Schulhof herumzutreiben. Niemand ist mehr auf dem Hof … Anna versucht, möglichst weit die Straße hinunterzuspähen, um zu sehen, ob dort noch jemand ist, der Anna bemerken könnte. Anna wählt einen Weg, auf dem es am wenigsten wahrscheinlich ist, dass sie auf Oskari oder seine Freunde stößt.
Obwohl sie überall auf sie stoßen kann. In der typisch finnischen Kleinstadt kann Oskari oder jemand anders jeden Augenblick um die Ecke biegen. Und was, wenn Anna dann allein wäre? Das könnte sie noch überleben. Wenn das aber in der Stadt in Vatis Gesellschaft passieren würde oder in Mutters – nein, unmöglich. Das darf nicht geschehen. Anna würde es nicht ertragen, dass ihre Eltern sehen, was Oskari mit ihr macht, wie Oskaris Hände sie packen und schieben und drücken und alles Mögliche tun. Deshalb ist Anna bei jedem Gang zum Einkaufen hellwach, registriert jeden Menschen, der in ihr Gesichtsfeld tritt, schreckt beim Anblick eines jeden gleichaltrigen Jungen zusammen, erstarrt für einen Augenblick, die Hände kalt vor Schweiß, wenn in einiger Entfernung ein ebenso blonder Kopf auftaucht wie Oskaris … Aber es ist nicht Oskari. Der Junge dreht sich um und sieht sich zusammen mit seinem Vater irgendwelche Sportgeräte an. Der Kopf ist zu rund, der Junge für Oskari zu groß. Die Mutter bemerkt nicht, dass Anna zur Salzsäule erstarrt ist und sich in ihrer Bewegungslosigkeit so unsichtbar gemacht hat wie nur möglich. Denn es ist beschämend. Das, was Oskari tut. Was Oskaris Freunde tun. Mit Anna. Das ist nicht meine Schuld! Wirklich nicht! Ich kann nichts dafür, dass ich die ersten Brüste der ganzen Unterstufe habe!Und selbst wenn ich das in den Genen hätte, bedeutet es nicht, nein, wirklich nicht, dass ich auch alles andere in den Genen hätte, das habe ich nicht, das, was ihr alle glaubt, habe ich nicht! Ihr denkt falsch! Bleibt mir vom Leibe! Ihr dürft das nicht! Ich werf euch diesen Stein an den Kopf, wenn ihr nicht weggeht! Ich werfe ganz bestimmt! Hört auf damit! Nein, ihr dürft das nicht … Ihr dürft das nicht!
DIE
HOLZSCHUHE
KRACHEN nacheinander zu Boden, Mutter hat sie mir gegen die Brüste geworfen, meine Brüste sind klein und empfindlich und knospig und schamlos, Mutter geht hinaus, und die Tür knallt zu, die Holzschuhe hatten mich völlig unerwartet, ohne Vorwarnung getroffen, ich hatte in aller Ruhe hier in meinem Zimmer gesessen, als die Holzschuhe mich plötzlich an den Brüsten trafen. Dabei hatten die mir auch vorher schon wehgetan. Seit zwei Wochen sondern sie eine Art gelben Eiter ab, ich weiß nicht, was das ist, aber so etwas kann ich auch niemanden fragen, das ist zu peinlich, obwohl ich nicht weiß, was daran peinlich ist. Im Stillen ziehe ich die Schlussfolgerung, dass mein Unterhemd ein Material enthält, das so etwas verursacht. Oder vielleicht liegt auch das Eitern an den Genen. Ich lege Watte zwischen Brüste und Hemd, damit die gelbe Flüssigkeit nicht nach außen dringt und damit das Unterhemd nicht an der Brust kleben bleibt, denn ein paarmal ist es passiert, dass die Flüssigkeit angetrocknet ist und das Abreißen des Hemdes schmerzhaft war. Aua. Nähte in den Hemden verschlimmern die Sache, und ich beginne beim Gehen die Ellbogen etwas zu beugen, damit das Hemd an den Brüsten weniger scheuert. Aua aua. Ein Jahr lang bemühe ich mich, Laufen und Springen zu vermeiden, aber wegen Oskari muss ich manchmal rennen. Denn das, was Oskari macht, tut bei dem Zustand meiner Brüste doppelt weh.
Ich wasche meine Hemden heimlich, gehe allein in die Sauna, ziehe mich nur allein oder im Dunkeln um, niemanddarf sehen, was mit meinen Brüsten los ist. Die Wattebäusche muss ich oft genug wechseln, sonst fangen sie an zu stinken, aber es tut weh, sie zu wechseln, und ich muss sie einweichen und langsam lösen, bevor sie abgehen und ich neue vorlegen kann. Die alten, harten Wattebäusche verstecke ich hinter dem Schrank, und manchmal untersuche ich sie und rieche daran, zumal an den allerdicksten, das empfinde ich als so aufregend wie vielleicht manche Kinder das Verspeisen der eigenen Popel. Das alles zieht sich lange hin. Ich kann nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. Ich muss ihn schwänzen und vieles andere
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