Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Lieb Vaterhaus – ade!
Annemarie Braun stand in ihrem Mädchenstübchen und schaute mit strahlenden Blauaugen in den Spiegel. Heute mußte sie sehen, wie man ausschaute, wenn man neunzehn Jahre alt war.
Der 9. April – ihr Geburtstag! Von jeher hatte er eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt. Heute aber war er von ganz besonderer Bedeutung. Hatte er ihr doch die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches gebracht. Nichts weiter hatte sie sich zu ihrem heutigen Geburtstag gewünscht als ein gemeinsames Studienjahr mit den Freundinnen in Tübingen.
Es war nicht so einfach gewesen, diesen Wunsch bei den Eltern durchzusetzen. Weder Vater noch Mutter wollten etwas davon wissen, ihr Nesthäkchen in die Fremde zu lassen. Denn trotz ihrer neunzehn Jahre war Annemarie noch immer das Nesthäkchen der Familie, ihre »Lotte«, wie die Eltern sie noch heute zärtlich nannten. Von ihrem Sonnenschein sollten sie sich trennen?
Dr. Braun war der Ansicht, daß Annemarie genauso gut die Universität in Berlin besuchen konnte. Denn von klein auf war es schon ihr Wunsch gewesen, Assistentin in Vaters Klinik zu werden und ihm einmal in seiner großen Praxis zu helfen. Na ja, Vater hatte durchaus nichts dagegen, er freute sich schon auf die Zeit, wo sie gemeinsam mit ihm arbeiten würde. Aber wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute so nahe lag? Konnte sie bessere Anleitung zu ihren medizinischen Studien haben als durch den Vater?
Die Mutter meinte, daß Annemarie sich nun endlich auch mal im Haushalt betätigen müsse. Solange das Mädel in der Schule und auf dem Gymnasium war, hatte es dazu keine Zeit gehabt. Wollte es wirklich mal am Wäschetag helfen, dann hatte die gute Hanne schon alles im voraus getan; »ihr Kind« sollte doch keine Last haben. Dadurch war Nesthäkchen aber im Haushalt so unerfahren wie ein neugeborenes Kind. Ja, Mutter war dafür, daß Annemarie sich das Sommerhalbjahr über tüchtig im Haushalt tummeln und erst zum Winter mit dem Studium beginnen sollte.
Aber was sind alle Vorstellungen der Eltern den Bitten und dem inständigen Flehen des Töchterchens gegenüber?
Nesthäkchen hatte es mal wieder durchgesetzt, wie schon öfters. Marlene Ulrich und Ilse Hermann, ihre beiden Freundinnen, mit denen sie zusammen das Abitur gemacht hatte, durften doch auch. Warum sollte sie dann nicht nach Tübingen? Und Hans, der älteste der Braunschen Sprößlinge, der bereits Referendar war, hatte doch auch in Freiburg studiert. Na ja, Klaus, der zweite, der hatte ja in Berlin die landwirtschaftliche Hochschule besucht. Aber jetzt wollte er doch auch ein Jahr praktisch auf einer Domäne arbeiten.
Allen Einwendungen wußte die neunzehnjährige Logik unwiderlegbar zu begegnen. Bis heute morgen auf dem Geburtstagstisch wirklich ein großes, von Klaus in futuristischen Farben gemaltes Plakat geprangt hatte: Ein Studienjahr in Tübingen.
»Hurra!« Durch das ganze Haus hatte Nesthäkchen sein Glück verkündet.
Puck, das weiße Hündchen, beteiligte sich lebhaft an diesem Jubelausbruch. Es war ein Radau, daß Hanne mit dem Eierschläger auf der Bildfläche erschien, um zu sehen, was es da gäbe.
Inzwischen umarmte Annemarie die Eltern stürmisch.
»So sehr freut sich meine Lotte, von uns fortzukommen?« fragte der Vater halb im Ernst, halb im Scherz.
»Ach, Vatchen, einmal ist man doch nur jung. Und Reisen gehört zur Bildung.
Das weitet den Blick. So ein Studienjahr zu Hause ist traurig. Seine eigene Studentenbude muß man haben. Wir nehmen alle drei zusammen ein Zimmer. Das wird ein Gaudi werden!«
»Zu ernsten Studienzwecken wollen wir dir ein Universitätsjahr bewilligen, damit du mal meine Assistentin werden kannst, Lotte, nicht des Vergnügens wegen«, meinte Dr. Braun lächelnd, indem er sich heimlich an der Freude seines hübschen Töchterchens weidete.
»Aber natürlich. Dafür sorgt schon Marlene. Die ist ehrgeizig. Ilse ist auch mehr fürs Vergnügen als fürs Studium.«
»Ja, daß Marlene Ulrich dabeisein wird, ist mir eine rechte Beruhigung, Lotte.«
Die Mutter warf einen besorgten Blick auf ihr Kind. »Marlene ist zuverlässig, überlegt und verständig. Sie muß es für dich, Springinsfeld, mit sein.«
»Na und ob! Für Ilse auch gleich mit. Die sagt sowieso zu allem, was Marlene tut, ja und amen. Die beiden hätten überhaupt nur ein Mensch werden sollen.«
»Mit einem hellblonden und einem schwarzen Zopf zur gefälligen Auswahl«, mischte sich Klaus ein.
»Nee, blond und schwarz gibt braun.
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