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Stars & Stripes und Streifenhörnchen

Titel: Stars & Stripes und Streifenhörnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Streck
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Schwingung brachten. Die Gegend abklappern bekam hier einen neuen Sinn. Judy fragte: »Wie heißt denn nun diese wunderbare Schokolade mit den Kirschen drin?« Ich murmelte versonnen: »Scheiße«. Judy fragte: »What?« Die Stimmung gefror, Eiswürfel im Kaffee, Schlaglöcher. An einer Kreuzung telefonierte sie von ihrem Handy aus lautstark mit einem Faxgerät; sie kreischte unentwegt »Heeellloooo« ins Piepen hinein. Keine Antwort.
    Wir fuhren den Hutchinson Parkway südwärts Richtung Mamaroneck und hielten vor einer umgebauten Scheune, 50 Meter vom Highway entfernt. Judy sagte: »Europäer sind doch Romantiker« und rupfte einen gelben Zettel von der Eingangstür – Pest-Control. »Ameisen«, sagte Judy, »bestimmt nur Ameisen.« Die Scheune, 3900 Dollar, war riesig. Sie war Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden; dem Interieur und Geruch nach zu urteilen mussten die letzten Bewohner kurz vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges ausgezogen sein. In einem Raum, der einmal ein Badezimmer gewesen sein musste, stand eine rostige Badewanne auf vier geschwungenen verrosteten Füßen, die Tapete war von undefinierbarem Alter, schuppiger Konsistenz und bräunlichem Teint. Draußen der Highway, »sehr verkehrsgünstig«. Und der Lärm? »Wenn du die Augen schließt, wirst du denken, es wäre der Ozean.« Sagte Judy. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie der Ozean Judy verschluckt. Oder der Highway. Was heißt noch mal Hals abschneiden auf Englisch?
    »Du, Judy«, sagte ich schließlich, »mir fehlt für den Preis aber ein alter Mann auf der Terrasse, im Schaukelstuhl und mit 'nem Whiskeyglas, so wie im Fernsehen.« Sie sagte: »Ich kenne da einen alten Kroaten, der würde das machen für ein paar Dollar.« Sie sagte das todernst. Irgendwie verstand Judy keine Ironie. Und ich verstand ganz langsam keinen Spaß mehr und konnte die Töchter des Hauses verstehen. Ich sehnte mich nach Europa und sogar nach deutschen Maklern, die wie Springer-Chefredakteure aussehen. Ich hatte die erste Glaubenskrise.
    Vier Tage fuhr ich mit Judy Häuser und Wohnungen ab. Es waren die längsten vier Tage meines Lebens. Häuser aus Pappe für 4000 Dollar aufwärts, klappernde Zähne, klappernde Eiswürfel. Am fünften Tag kam die Frau des Hauses als Verstärkung angereist. Am sechsten Tag traf sie Judy, die »nice to meet you« sprach und fragte: »Ihr Mann hat vergessen, wie diese deutsche Schokolade mit den Kirschen drin heißt. Wissen Sie das?« Die Frau schaute zwar leicht irritiert, antwortete aber zur vollen Zufriedenheit von Judy: »Sie meinen wahrscheinlich Mon Chéri«. Die beiden Frauen verstanden sich mindestens eine halbe Stunde lang prächtig, »ich weiß gar nicht, was du gegen sie hast!«, sagte die Frau vorwurfsvoll.
    Es waren die bis dahin längsten 30 Minuten meines Lebens.
    »Gerald«, sagte Judy. »Wir besuchen jetzt Gerald.« Gerald besaß eine Art Holz-Papp-Bungalow in White Plains am Ende einer Sackgasse und vermietete – wie Judy versicherte – günstig, 4200 Dollar. »Ein Schnäppchen für diese Gegend, lovely place«. Schwindelgefühle setzten ein. 4200 Dollar, Schnäppchen. Wir sollten erst später herausfinden, dass Judy sogar die Wahrheit sagte.
    Gerald wohnte direkt nebenan, und er lispelte ein bisschen, aber das war besser als klapprige Zähne. Gerald war der Boss. Gerald hatte immer recht. Gerald stellte gleich mal klar: »Nie mehr als fünf Gäste gleichzeitig, und Bilder werden nur mit meiner Genehmigung aufgehängt. Wäsche trocknen draußen ist nicht erlaubt. Im zweiten Jahr steigt die Miete um weitere 280 Dollar.« Dann machte er eine Pause von circa vier Sekunden. »Wissen Sie«, hob er wieder an, »mein Vater hat das gebaut. Und wenn er noch lebte, würde er sehr darauf achten. Aber weil er nicht mehr lebt, achte ich eben sehr darauf.« Gerald, Versicherungsvertreter, war unverheiratet. Sein Vater hätte bestimmt keine Frau an Geralds Seite geduldet, die Bilder aufhängt und mehr als fünf Gäste einlädt und Wäsche draußen trocknet. Es war besser so für Gerald. Ein Alptraum am helllichten Tag entspann sich vor meinen Augen. Wir sitzen draußen, und in unserem Nacken sitzt Gerald und zählt Gäste, »nie mehr als fünf«. Kindergeburtstage sind genehmigungspflichtig, Wäsche flattert im Wind, und Geralds väterlicher Geist rupft sie von der Leine und grinst dämonisch und ruft »Got you, you bastards«. Das träumte ich am helllichten Tage, während Gerald einen Kugelschreiber auf

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