Stars & Stripes und Streifenhörnchen
Nachbar David vorbeischaute. »Hey folks«, sagte er, »nice to meet you«. Nachbarn in Amerika sind eine prima Erfindung. Nachbarn in Amerika sind im Schnitt freundlicher als Nachbarn in Deutschland. Man lädt sich gegenseitig unentwegt ein, zu allen möglichen Anlässen. Also sprach David, Rechtsanwalt: »Wir haben am Samstag ein kleines Fest in unserem Wochenendhaus am See. Kommt doch. Dann lernt ihr auch den Rest der Nachbarschaft kennen.« Es kamen viele Familien mit vielen Kindern an den See, und aus dem Fest wurde unser erster interkultureller Crashkurs. Amerikanische Kinder sind nämlich etwas anders als europäische Kinder. Ich saß mit der Frau auf einer Bank am See, und wir wollten uns gerade eine Zigarette anstecken, da rief ein sehr dickes, blondes Mädchen aus dem Wassert »Rauchen macht Krebs und schlechten Atem«. Ich war schwer versucht zurückzurufen »zu viele Hamburger machen dick und frech«, aber da stand schon der Vater des dicken Mädchens neben uns und fragte: »Warum raucht ihr?« Ich sprach: »Es ist ein Laster, ich weiß. Es ist eine Sünde.« Und er sagte: »Nein, es ist mehr als eine Sünde«, und seine dicke Tochter freute sich. Sie freute sich nicht sehr lange. Kurz drauf war sie wohl auch mal frech zu ihrem Vater, und der sperrte sie ins Auto und schloss ab, und sie schrie von drinnen und trommelte gegen die Fenster. Vielleicht deshalb, weil zur selben Zeit gegrillte Hamburger gereicht wurden. Die Töchter waren ein wenig irritiert über das dicke, blonde Mädchen im Auto und ihren nicht weniger voluminösen Vater, der, wie wir lernten, ein bekannter Herzspezialist ist und auch in unserer Nachbarschaft wohnt. Wir haben keinen besonders guten Kontakt zu ihm seit dem Fest am See, Rauchen gefährdet unsere und offenbar auch seine Gesundheit. Manchmal sehen wir ihn und seine Tochter, wir nicken uns zu. Die beiden sind immer noch sehr dick, und wir rauchen immer noch.
Die ersten Tage in Amerika verflogen, während wir campten und unsere Möbel und ein kaputtes Klavier auf dem Atlantik waren. Die Streifenhörnchen-Population in unserem Garten erholte sich schleppend von »Bad Cat«, die Töchter machten famose Fortschritte mit ihrem Englisch und sprachen bei den Botengängen im Supermarkt fast schon komplette Sätze, »Sugar. Please, sugar«, und langsam zog der Ernst des Lebens in unser Haus. Wir meldeten die Töchter an der Deutschen Schule New York in White Plains an, und beim Gespräch mit dem Direktor merkten Frau und Mann, dass wir sehr wahrscheinlich keine guten Deutschen sind. Der Direktor, ein Mann mit Hornbrille und rheinischem Akzent, sagte: »Wir haben dienstags abends einen Chor für die Eltern. Wir singen Kantaten. Sie sind herzlich eingeladen.« Es war ein Segen, dass die Frau geistesgegenwärtig in den Oberschenkel ihres Gatten kniff und damit einen schweren Lachanfall im Ansatz unterband. Singen ist ja schon in Deutschland nicht schön, aber in New York? Kantaten? In der Schule? Der Direktor musste verrückt sein. Er verließ im darauffolgenden Jahr auch die deutsche Schule, aber sie singen dort immer noch.
Der Container mit unseren Möbeln und dem kaputten Klavier drin kam an einem Montag, und mit dem Container kamen Richard, Samuel und Larry. Drei kräftige schwarze Möbelpacker, echte Jungs aus dem Leben, Bronx. Man stellte zuallererst fest, dass deutsche und amerikanische Möbelpacker ungefähr gleich große Mägen haben. Nur, dass es in Amerika keine Brötchen gibt. Aber dafür zum Beispiel »Italian Combo in a Wedge«, was ein ungefähr 70 Zentimeter langes Pappbrot mit halb Italien drin ist. Derart gestärkt, halb Italien im Bauch, schleppten Richard, Samuel und Larry die 750 Kartons und das kaputte Klavier ins Haus und bauten Betten und Regale auf und sagten lustige Sachen wie »I can't Ei-kie-ja«. Was sich insofern später bewahrheiten sollte, als dass sämtliche Ikea-Regale wackelten und die Betten auch. Die Frau delegierte die Kartons in die jeweiligen Räume. Auf einem Karton stand nur eine Nummer und sonst nichts. Es war unendlich viel Packpapier in diesem Karton, eine finnische Schonung Wald mindestens. Ich wühlte und wühlte und wühlte – und schließlich kam die prä-dadaistische Enten- oder Gans- oder Drossel- oder Amsel-Laterne zum Vorschein und danach der fiese Weihnachtsfeier-Zinnbecher, und es folgte ein giftiger Blicke-Austausch mit der Frau, ehe ich mich aus dem Staub machte für ein Interview in Harlem.
Dunkle, schwere Regenwolken hingen über
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