Staub
ist informiert«, sagt Scarpetta wütend. »Lucy hat es mir verschwiegen. Warum?«
Rudy zögert und weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll. »Vermutlich aus persönlichen Gründen.«
»Ich verstehe.«
»Entschuldige. Ich sage lieber nichts mehr dazu. Aber es tut mir wirklich Leid. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen, aber du musst es wissen, weil offenbar ein Zusammenhang zu deinem Fall besteht. Frag mich nicht, welcher. Mein Gott, so etwas Merkwürdiges ist mir noch nie untergekommen. Womit haben wir es hier zu tun, verdammt? Einem Spinner?«
»Mehr als das«, meint sie zu Rudy. »Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen weißen Mann namens Edgar Allan Pogue, etwa Mitte dreißig. Es gibt Datenbanken für Apotheken«, fährt sie fort. »Er könnte in einer oder mehreren davon verzeichnet sein, weil er möglicherweise wegen einer Erkrankung der Atmungsorgane Stereoide einnimmt. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Brauchst du auch nicht«, entgegnet Rudy und klingt ein wenig aufgemuntert.
Scarpetta beendet das Gespräch und ihr schießt dabei durch den Kopf, dass sich ihre Einstellung zu Regeln verändert, wie Licht es abhängig vom Wetter und von der Jahreszeit tut. Dinge, die früher ein bestimmtes Gesicht hatten, sehen heute ganz anders aus und werden sich in den kommenden Tagen und Jahren weiter wandeln. Es gibt auf der Welt kaum eine Datenbank, auf die Das Letzte Revier keinen Zugriff hätte. Und im Moment geht es darum, ein Ungeheuer zu schnappen. Zum Teufel mit den Regeln. Zum Teufel mit den Schuldgefühlen und Zweifeln, die sie spürt, als sie im Schlafzimmer steht und das Telefon wieder in die Tasche steckt.
»Von seinem Schlafzimmerfenster konnte er in ihres hineinschauen«, führt Scarpetta das Gespräch mit Browning fort. »Falls Mrs. Paulsson ihre so genannten Spielchen im Haus veranstaltet hat, hat er sie möglicherweise durch die Scheiben beobachtet. Und wenn, Gott behüte, ein Teil davon in Gillys Zimmer stattfand, hat er das auch gesehen.«
Marino tritt ins Schlafzimmer und blickt Scarpetta eindringlich an. »Doc?«
»Ich will darauf hinaus, dass es mit der menschlichen Natur, genauer der beschädigten menschlichen Natur, eine seltsame Bewandtnis hat«, spricht sie weiter. »Jemand, der sieht, wie jemand zum Opfer gemacht wird, kann Lust bekommen, sich auch an dieser Person zu vergehen. Durch ein Fenster Zeuge sexueller Gewalt zu werden, kann provozierend auf jemanden wirken, der bereits Tendenzen …«
»Was für Spiele?«, fällt Browning ihr ins Wort.
»Doc?«, wiederholt Marino, und sein Blick ist hart. Es lodert die Wut darin, die ein Bestandteil der Jagd ist. »Offenbar haben wir es da draußen im Schuppen mit einer ziemlichen Menschenansammlung zu tun. Lauter Tote. Ich glaube, das solltest ihr euch mal anschauen.«
»Sie haben gerade von einem anderen Fall gesprochen«, hakt Browning nach, als sie den schmalen, dämmrigen und kalten Flur entlanggehen. Plötzlich hat Scarpetta das Gefühl, dass der Geruch nach Staub und Moder ihr den Atem raubt, und sie versucht, nicht an Lucy zu denken. Auch nicht daran, was ihre Nichte als persönlich und geheim einstuft. Scarpetta berichtet Browning und Marino, was sie gerade von Rudy erfahren hat. Browning reagiert aufgeregt, Marino verstummt.
»Dann ist Pogue vermutlich in Florida«, sagt Browning. »Darauf würde ich jede Wette eingehen.« Er wirkt verwirrt, während die verschiedensten Gedanken in seinen Augen aufblitzen. In der Küche bleibt er stehen und fügt hinzu: »Ich komme gleich nach.« Mit diesen Worten nimmt er das Telefon vom Gürtel.
Ein Spurensicherungsexperte in einem marineblauen Overall und mit Baseballkappe nimmt Fingerabdrücke von der Abdeckung des Lichtschalters in der Küche. Scarpetta hört die anderen Polizisten im Wohnzimmer des bedrückenden kleinen Hauses. An der Hintertür stehen große schwarze Müllsäcke, verschlossen und als Beweisstücke etikettiert. Junius Eise fällt ihr ein. Er wird alle Hände voll damit zu tun haben, den wirren Müll aus Edgar Allan Pogues wirrem Leben zu sortieren.
»Hat der Kerl je in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet?«, fragt Marino Scarpetta. Hinter dem Haus ist der Garten überwuchert, tot und mit feuchtem Laub bedeckt. »In dem Schuppen stapeln sich Unmengen von Kartons, in denen sich offenbar menschliche Asche befindet. Sie scheinen zwar schon ein paar Jahre alt zu sein, stehen meiner Ansicht nach aber noch nicht lange hier. So als ob er sie erst vor
Weitere Kostenlose Bücher