Staub
Nummernschilder. Allerdings ist es auch möglich, dass er gar kein Auto hat.
Das Mobiltelefon in ihrer Tasche fühlt sich schwer und lästig an, obwohl es eigentlich recht klein ist und nicht viel wiegt. Aber ihre Gedanken an Lucy bedrücken sie, und unter den gegebenen Umständen wagt sie es kaum, ihre Nichte anzurufen. Ganz gleich, wie Lucys persönliche Situation auch aussehen mag, graut es Scarpetta davor, Einzelheiten zu erfahren. Über das Privatleben ihrer Nichte gibt es nur selten etwas Erfreuliches zu berichten, und der Teil von Scarpetta, der offenbar nichts Besseres zu tun hat, als sich Sorgen zu machen und zu grübeln, verbringt ziemlich viel Zeit damit, sich die Schuld an Lucys Beziehungsunfähigkeit zu geben. Benton ist in Aspen, und sicher weiß Lucy darüber Bescheid. Bestimmt ist ihr auch klar, dass es zwischen Scarpetta und Benton nicht gut läuft, und zwar schon, seit sie wieder zusammen sind.
Scarpetta wählt gerade Lucys Nummer, als die Tür aufschwingt und Marino auf die dunkle Veranda hinaustritt. Scarpetta findet es merkwürdig, dass er mit leeren Händen einen Tatort verlässt. Als Detective in Richmond ist er nie gegangen, ohne so viele Beutel mit Beweisstücken mitzunehmen, wie in seinen Kofferraum passten. Nun jedoch hat er nichts bei sich, denn er ist in Richmond nicht mehr zuständig, weshalb es das Sinnvollste ist, wenn die Polizei die Beweismittel sicherstellt, beschriftet und gegen Aushändigung einer Quittung im Labor abgibt. Vielleicht werden diese Polizisten ihre Arbeit ja gut machen, nichts Wichtiges vergessen und auch nichts einsammeln, was nicht von Bedeutung ist. Doch während Scarpetta Marino beobachtet, der langsam den Backsteinweg entlang auf sie zukommt, fühlt sie sich machtlos und beendet den Anruf bei Lucy, bevor sich die Mailbox meldet.
»Was hast du vor?«, fragt sie Marino, als er bei ihr angekommen ist.
»Ich hätte jetzt gerne eine Zigarette«, erwidert er und blickt die unregelmäßig erleuchtete Straße entlang. »Jimmy, der furchtlose Immobilienmakler, hat mich zurückgerufen. Er hat Bernice Towle erreicht. Sie ist die Tochter.«
»Die Tochter von dieser Mrs. Arnette?«
»Genau. Und Mrs. Towle wusste nichts davon, dass jemand in dem Haus wohnt. Sie glaubt, dass es schon seit einigen Jahren leer steht. Es gibt da irgendein bescheuertes Testament, das ich nicht ganz kapiere. Die Familie darf das Haus nicht unterhalb eines gewissen Preises verkaufen, und Jim sagt, dass sie den nie im Leben bekommen werden. Keine Ahnung. Ich könnte jetzt wirklich eine Zigarette brauchen. Vielleicht liegt es ja an dem Zigarrenrauch da drin.«
»Was ist mit Gästen? Hat Mrs. Towle das Haus Gästen überlassen?«
»In dieser Bruchbude hat angeblich schon seit Menschengedenken niemand mehr übernachtet. Möglicherweise hat er es ja gemacht wie die Obdachlosen, die sich in verlassenen Gebäuden einnisten. Sie richten sich dort häuslich ein, wenn jemand kommt, verdrücken sie sich, und sobald die Luft wieder rein ist, kehren sie zurück. Wäre durchaus möglich. Und was willst du jetzt tun?«
»Ich denke, wir sollten ins Hotel fahren.« Sie schließt den Geländewagen auf und wirft noch einen Blick auf das erleuchtete Haus. »Heute Nacht können wir sowieso nicht mehr viel ausrichten.«
»Ich frage mich, wie lange die Hotelbar wohl geöffnet hat«, meint er, öffnet die Beifahrertür, zieht die Hosenbeine hoch, als er aufs Trittbrett steigt, und klettert vorsichtig in den Wagen. »Inzwischen bin ich hellwach. So ist das immer, verdammt. Eine einzige Zigarette wird mir schon nicht schaden. Und ein paar Bier. Dann kann ich vielleicht schlafen.«
Sie zieht die Tür zu und lässt den Motor an. »Hoffentlich ist die Bar geschlossen«, erwidert sie. »Wenn ich was trinke, wird die Sache nur noch schlimmer, weil ich dann nicht mehr denken kann. Was ist passiert, Marino?« Als sie losfährt, tanzen hinter ihr die Lichter von Edgar Allan Pogues Haus. »Er hat hier gewohnt. Hat jemand davon gewusst? Sein Holzschuppen ist voller menschlicher Überreste, und niemand hat ihn je im Garten oder in der Nähe dieses Schuppens gesehen? Willst du behaupten, dass er Mrs. Paulsson niemals dort aufgefallen ist? Oder vielleicht Gilly?«
»Warum fahren wir nicht kurz bei ihr vorbei und fragen sie selbst?«, gibt Marino zurück und schaut aus dem Fenster. Seine riesigen Hände liegen auf dem Schoß, als wolle er seine Verletzung schützen.
»Es ist fast Mitternacht.«
Er lacht höhnisch auf. »Die
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