Staub
zusammengefaltete Plastikhülle liegt. Links von dem Raum befindet sich eine Nische, und sie hat das Krematorium aus Betonblöcken bereits vor Augen, noch bevor sie es wirklich sieht. Dann fällt ihr Lichtstrahl auf die lange Eisentür in der Wand, und sie erinnert sich, wie sie das Feuer durch den Spalt in der Tür beobachtet hat. Staubige Stahlbahren mit Leichen darauf wurden hineingeschoben, und wenn sie herauskamen, waren nur noch Asche und Knochenstücke übrig. Sie denkt an die Baseballschläger, mit denen die Stücke zermalmt wurden, und wird von Scham ergriffen.
Der Lichtstrahl huscht über den Boden, der immer noch weiß von Staub und kleinen Knochensplittern ist, die wie Kreide aussehen. Beim Gehen spürt sie ein Knirschen unter den Sohlen. Joe ist ihr nicht gefolgt. Er wartet vor der Nische und hilft ihr aus der Entfernung, indem er den Boden und die Ecken ausleuchtet. Ihr Schatten, im Mantel und mit Schutzhelm, zeichnet sich riesengroß an der Betonwand ab. Dann gleitet das Licht über das Auge. Es ist mit schwarzem Sprühlack auf der beigefarbenen Betonwand angebracht. Ein großes schwarzes, starrendes Auge mit Wimpern.
»Was zum Teufel ist das?«, fragt Joe. Sie ahnt, dass er ebenfalls das Auge an der Wand betrachtet, obwohl sie das nicht sehen kann. »Mein Gott, was ist das?«
Scarpetta antwortet nicht und lässt den Lichtstrahl weiterwandern. Die Baseballschläger stehen nicht mehr in der Ecke, in der sie gelehnt haben, als sie noch Chefpathologin war. Doch sie erkennt einen großen Haufen Asche und Knochen. Eine ziemliche Menge, denkt sie. Das Licht fällt auf eine Sprühdose mit schwarzem Lack und zwei Lackdosen, eine rot, die andere blau und beide leer, die sie in einem Plastikbeutel verstaut. Die Sprühdose steckt sie in einen anderen Beutel. Außerdem entdeckt sie einige alte Zigarrenkisten mit Ascheresten darin, Zigarrenstummel auf dem Boden und eine zerknitterte braune Papiertüte. Ihre behandschuhten Hände greifen in den Lichtkegel und heben die Tüte auf. Papier knistert, als sie sie öffnet, und ihr ist klar, dass diese Tüte nicht schon seit acht Jahren hier unten liegt, nein, noch nicht einmal seit zwölf Monaten.
Ein leichter Geruch nach Zigarren steigt ihr in die Nase, und zwar nicht nach gerauchten Zigarren, sondern nach unverbranntem Tabak. Als sie in die Tüte leuchtet, entdeckt sie Tabakkrümel und eine Quittung. Joe beobachtet sie und richtet seine Lampe auf die Tüte in ihrer Hand. Sie betrachtet die Quittung und fühlt sich verwirrt und wie im Traum, als sie das Datum abliest. Es ist der 14. September, der Tag, an dem Edgar Allan Pogue – und sie ist sicher, dass er es war – in einem Tabakladen gleich die Straße hinunter im James Center mehr als einhundert Dollar für zehn Zigarren der Marke Romeo y Julieta ausgegeben hat.
55
Das James Center gehört nicht zu den Orten, die Marino während seiner Zeit als Polizist in Richmond besucht hat. Seine Marlboros hat er nicht in schicken Tabakläden gekauft, und Zigarren hat er sich nie geleistet, weil selbst eine billige Zigarre ziemlich teuer für ein einziges Raucherlebnis ist. Außerdem hätte er sie ohnehin nicht gepafft, sondern inhaliert. Da er inzwischen fast gar nicht mehr raucht, kann er es zugeben: Er hätte Zigarrenrauch inhaliert.
Das Atrium wird von Glas, Lichtern und Pflanzen dominiert, und das Plätschern von Brunnen und Wasserfällen folgt Marino, als er zu dem Laden eilt, wo Edgar Allan Pogue knapp drei Monate vor dem Mord an der kleinen Gilly Zigarren gekauft hat.
Es ist noch vor zwölf Uhr mittags, und in den Läden ist nicht viel los. Einige Leute in schicken Anzügen trinken Kaffee oder hasten umher, als würden sie irgendwo dringend erwartet und wären mit wichtigen Dingen beschäftigt. Marino kann Leute wie die im James Center nicht ausstehen. Er kennt ihresgleichen. Und zwar schon seit seiner Kindheit, auch wenn er keine persönlichen Erfahrungen mit ihnen gemacht hat. Aber er hat schon viel von ihnen gehört. Sie gehören zu der Sorte von Menschen, die sich nie die Mühe gemacht haben, sich mit Marinos Kreisen auseinander zu setzen. Er geht schnell und ärgert sich. Als ein Mann in einem eleganten Nadelstreifenanzug an ihm vorbeirauscht, ohne ihn wahrzunehmen, denkt er: Du hast ja keine Ahnung. Leute wie du verstehen einen Scheißdreck vom Leben.
Im Tabakladen ist die Luft mit einer süßlichen Symphonie von Tabakdüften geschwängert, die Sehnsucht in Marino weckt. Da er nicht weiß, was das
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