Staub
Philpott. Er kehrt in die Küche zurück und reicht ihr eine dicke Akte, auf der in Druckbuchstaben Pogues Name steht. »Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Aber ich komme später nochmal zu Ihnen.«
Offen gestanden hatte Scarpetta von Anfang an eine Abneigung gegen die Anatomie. Sie ist forensische Pathologin und Anwältin, nicht Inhaberin eines Bestattungsunternehmens. Stets ging sie davon aus, dass die Toten in der Anatomie ihr nichts mitzuteilen hatten, weil sich um ihr Ableben kein Geheimnis rankte. Falls es so etwas wie einen friedlichen Tod gibt, war er bei diesen Menschen eingetreten. Scarpettas Mission hingegen sind diejenigen Toten, die nicht friedlich aus dem Leben geschieden sind. Und da sie nicht mit den Leichen in den Wannen sprechen wollte, hat sie den unterirdischen Teil ihrer Welt damals gemieden. Sie hat um die Leute, die dort arbeiteten, sowie um die Verstorbenen einen Bogen gemacht. Sie wollte sich nicht mit Dave oder mit Edgar Allan abgeben. Nein, auf keinen Fall. Wenn rosafarbene Leichen an Winden und Ketten hochgezogen wurden, wollte sie nicht dabei sein.
Ich hätte aufmerksamer sein müssen, denkt sie, während sie vom Kaffee ein saures Gefühl im Magen hat. Ich hätte mehr tun können. Bedächtig studiert sie Pogues Krankenakte. Ich hätte eine Mühle anschaffen sollen, sagt sie sich erneut, während sie nachsieht, welche Adresse Pogue angegeben hat. Laut Akte hat er bis 1996 in Ginter Park im Norden der Stadt gewohnt und dann ein Postfach als Adresse genannt. In seiner Akte steht nirgends, wo er seit 1996 wohnt, und sie fragt sich, ob er damals in das Haus hinter dem Gartenzaun der Paulssons eingezogen ist. In Mrs. Arnettes Haus. Vielleicht hat er sie ja auch umgebracht und anschließend ihr Haus benutzt.
Eine Meise landet auf dem Vogelhäuschen vor dem Fenster. Scarpetta beobachtet sie, während ihre Hand reglos auf Pogues Akte ruht. Sonnenlicht streift warm die linke Seite ihres Gesichts, als sie zusieht, wie der kleine graue Vogel mit funkelnden Augen und zuckendem Schwanz das Futter aufpickt. Ihr ganzes Berufsleben lang ist sie vor den Bemerkungen geflohen, die unwissende Menschen über Ärzte machen, deren Patienten tot sind. Sie sei morbide veranlagt. Sie sei seltsam und komme mit den Lebenden nicht zurecht. Forensische Pathologen seien Eigenbrötler, schrullig, kalt und bar jeglichen Mitgefühls, da sie als Ärzte, Väter, Mütter, Liebhaber und Menschen versagt hätten.
Wegen solcher Vorurteile unwissender Menschen hat sie die dunklen Seiten ihres Berufs ignoriert, und sie möchte das auch weiterhin tun. Sie versteht Edgar Allan Pogues Schrulligkeit. Auch wenn sie nicht so empfindet wie er, kann sie sie nachvollziehen. Sie sieht sein bleiches Gesicht und die verstohlenen Blicke in ihre Richtung, und sie erinnert sich an den Tag, als sie Lucy einmal mit nach unten nahm. Ihre Nichte verbrachte die Weihnachtsferien bei ihr und begleitete sie gern ins Büro. Da Scarpetta an diesem Tag etwas mit Dave zu besprechen hatte, kam sie mit in die Anatomie. Und sie benahm sich – typisch Lucy – wild, ungebärdig und pietätlos. Irgendetwas ist an besagtem Tag geschehen. Was war es nur?
Die Meise pickt das Futter auf und beobachtet Scarpetta unentwegt durch die Scheibe. Als sie die Kaffeetasse hebt, flattert der Vogel davon. Fahles Sonnenlicht spiegelt sich in der weißen Tasse, die das Wappen des Medical College of Virginia trägt. Scarpetta steht von Dr. Philpotts Küchentisch auf und wählt Marinos Mobilfunknummer.
»Ja«, meldet er sich.
»Er kommt nicht mehr nach Richmond«, sagt sie. »Er ist schlau genug, um zu wissen, dass wir ihn suchen. Außerdem eignet sich Florida großartig für Lungenkranke.«
»Dann sollte ich besser bald hinfliegen. Was ist mit dir?«
»Ich muss noch etwas erledigen, dann bin ich fertig mit dieser Stadt.«
»Brauchst du meine Hilfe?«
»Nein danke«, erwidert sie.
53
Die Bauarbeiter machen Mittagspause, sitzen auf Betonklötzen oder auf den Sitzen ihrer großen gelben Maschinen und essen. Schutzhelme und wettergegerbte Gesichter wenden sich Scarpetta zu, als sie durch den dicken roten Morast watet und dabei ihren langen dunklen Mantel rafft wie einen langen Rock.
Sie sieht weder den Vorarbeiter, mit dem sie letztens gesprochen hat, noch jemand anderen, der hier das Sagen haben könnte. Die Arbeiter beobachten sie, ohne dass jemand nach ihrem Anliegen fragt. Einige Männer in staubiger dunkler Kleidung haben sich um einen Bulldozer
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