Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
einem kleinen, von einer Steinmauer umgrenzten Garten zur Nahe.
So wie sich der Großonkel seinerzeit eingedeutscht und Stephan genannt hatte statt Etienne, so wurde der ältere der beiden George-Söhne statt Stephan jetzt Etienne gerufen. Das schuf neuerliche Familientradition, zumal der Stellvertretende Kammerpräsident auch Patenonkel des Jungen war. Das geistige Vermächtnis der Georges war also zweimal hintereinander jeweils auf die Linie des Bruders übergegangen. Etienne nannte sich dieser Großneffe bis in die neunziger Jahre, mit Etienne unterzeichnete er noch als 22-Jähriger seine Briefe. Seit er in Paris dem Dichter Stéphane Mallarmé vorgestellt worden war, bevorzugte er jedoch immer häufiger seinen Taufnamen, allerdings in der Schreibung »f« statt »ph«. Von seinem 24. Lebensjahr an nannte er sich endgültig Stefan George. 5 Nur in der Korrespondenz mit den Eltern wurde Etienne noch über ein Jahrzehnt beibehalten, und die Schwester schrieb bis 1905 konsequent »Lieber Stephan«.
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Am Anfang also Napoleon. George hat diese Genealogie gekannt und ihre Bedeutung für den Werdegang der väterlichen Familie einzuschätzen gewusst. »Sein Urgroßvater [richtig: Urgroßonkel] sei aus Lothringen mit Napoleon bei der Okkupation der Rheinlande nach dem Rheinland eingewandert, als man Beamte brauchte, die zwei Sprachen sprächen«, antwortete er im Sommer 1919 auf die Frage
von Edith Landmann, ob bei ihm zu Hause französisch gesprochen worden sei. 6 Georges Antwort war eindeutig: Dem Kaiser hatten sie ihren Aufstieg zu danken, Französisch war deshalb aber noch lange nicht die Familiensprache. Nur wenn die Enkel die Marseillaise anstimmten, sang der Großvater eifrig mit. Auf dem Kamin in seinem Wohnzimmer habe immer eine kleine Napoleon-Statue gestanden – »und wich nicht, obwohl die Großmutter eine Germania gegenüberstellte«. Da Bilingualität gut ins Bild eines von Frankreich geprägten Dichters passte, wurde in der George-Literatur immer wieder kolportiert, der Dichter sei zweisprachig aufgewachsen. Mit dem Französischen war es in seiner Familie aber nicht weit her, wie George seinem Biographen 1929 einräumte. Er selbst rückte im Laufe seines Lebens zunehmend vom Französischen ab und betonte stattdessen die Schönheit des Italienischen, »das er sehr liebte und mit Vollendung sprach«. 7
Die Verehrung für den Korsen, vielleicht sein wichtigstes väterliches Erbteil, begleitete George ein Leben lang. In Napoleon symbolisierten sich Aufbruchstimmung und Freiheitsdrang der Vorfahren, mit ihm hatte die Geschichte seiner Familie eigentlich erst begonnen. Aber Napoleon verkörperte für George mehr als den Wohltäter der Ahnen, für ihn war er »der letzte grosse Stern der zeitenbiege...« 8 Napoleon sei nicht bloß eine geschichtliche Figur, äußerte er im Frühjahr 1924 gegenüber Berthold Vallentin, »sondern in ihm strahle alles zusammen und alles von ihm aus«. 9 Goethe habe ganz recht gehabt, ihn das »Kompendium der Welt« zu nennen. Im Winter hatte George die neunbändige Napoleon-Biographie von Walter Scott gelesen, zwei Jahre zuvor begeistert die Enstehung von Vallentins eigenem Napoleon -Buch begleitet. Das Ende 1922 erschienene 500-seitige Werk »sei doch sehr revolutionär, viel revolutionärer als die anderen Bücher des Kreises«, meinte George nach der Lektüre lobend. Um Vallentin bei seinem Vorhaben zu ermutigen, hatte er ihm den Satz Nietzsches über Goethe abgeschrieben: »Das ereignis um dessentwillen er [d.i. Goethe] seinen Faust, ja das ganze problem mensch umgedacht hat war das erscheinen Napoleons.« Vallentin ließ
das Blatt zusammen mit einem eigenhändigen Namenszug Napoleons unter Passepartout montieren und rahmen. So hatte er bei der Arbeit seine beiden Helden in Autographen vor sich. 10
Immer wieder kam George in den frühen zwanziger Jahren auf Napoleon zu sprechen – Napoleon als das dämonische, das orientalische, das ruhmreiche, das Prinzip der Tat an sich. Vor allem faszinierte ihn die Kraft des Visionären. Die gedruckte Widmung der Vallentinschen Napoleon-Biographie – »hodierno heroi«, dem Helden des Heute – unterstrich Georges Überzeugung, dass nach dem Untergang des alten Europa die Beschäftigung mit Napoleon eine neue, höchst aktuelle politische Bedeutung gewinne. »Napoleons Ausspruch, dass Europa in hundert Jahren entweder amerikanisch oder kosakisch sein würde, habe sich verwirklicht. Heute sehe man es. Es sei ein großer Gedanke von ihm
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