Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Luxus, bis Köln mit dem Schiff zu reisen oder von dort das Schiff zurück nach Bingen zu nehmen. Brücken über den Rhein gab es in Worms, Mainz und Koblenz, bei Bingen stand eine Fähre nach Rüdesheim zur Verfügung. 22 Mit ihr waren die Bingener angebunden an die rechtsrheinische Eisenbahnstrecke, für den Personenfernverkehr zwischen Nord und Süd damals eine attraktive Alternative. Die meisten Züge der linksrheinischen Strecke Koblenz – Mainz hielten in Bingerbrück. Viermal am Tag sehe er die bordeauxroten Waggons der Compagnie de l’Est am Haus vorbeifahren, schrieb George 1892 einem Freund nach Paris, da nicht einsteigen zu können sei hart. Für die Fahrt von Bingerbrück nach Köln benötigte man viereinhalb Stunden.
Vermutlich hat kein deutscher Dichter mehr Zeit auf der Eisenbahn verbracht als George. Auf der Suche nach der jeweils günstigsten Verbindung studierte er eifrig die Kursbücher. Freunden teilte er
vorab die genauen Abfahrt- und Ankunftzeiten einschließlich sämtlicher Umsteigebahnhöfe mit. »Wie alle die Bahnen kamen, saß man da wie die Spinne im Netz. Nur Berlin war weit.« 23 Genau so muss man sich Georges Lebensrhythmus bis 1914 vorstellen. Er stützte sich auf die Logistik der Reichsbahn, die langfristige Planungen und eine schöne Regelmäßigkeit ermöglichte.
Bis zum Vorabend des Krieges hielt sich George meist mehrere Monate des Jahres in Bingen auf – vor der Jahrhundertwende manchmal das gesamte Frühjahr und den anschließenden Sommer. In Berlin verbrachte er ab 1895 regelmäßig den Herbst, spätestens zu Weihnachten traf er wieder zu Hause ein. Zwischen 1890 und 1913 feierte George Weihnachten nur zweimal nicht im Kreis der Familie: 1891, Hofmannsthals wegen, und 1903, als er wegen des eskalierenden Streits unter den Kosmikern bereits Mitte Dezember nach München fuhr. Dort verbrachte er von 1901 bis 1919 regelmäßig einige Wochen zu Jahresbeginn im Haus Wolfskehl.
Als der Krieg vorüber war, rückten in Bingen ein weiteres Mal die Franzosen ein. Mit dem Waffenstillstandsabkommen vom November 1918 hatten die Deutschen das linke Rheinufer räumen und anschließend im Versailler Vertrag ein auf 15 Jahre festgeschriebenes Besatzungsstatut akzeptieren müssen. Unter diesen Umständen seinen Fuß nach Bingen zu setzen, war für George unvorstellbar. Da die Eltern bereits vor dem Krieg gestorben waren – der Vater 1907 mit knapp 66 Jahren, die Mutter sechs Jahre später mit 73 -, gab es für ihn dort keine Verpflichtungen mehr.
Zur neuen Anlaufstelle und ersatzweisen Heimatadresse in den zwanziger Jahren wurde Königstein im Taunus. In dem von Wiesbaden leicht zu erreichenden, mit Villen herausgeputzten Kurort hatte die Familie in den neunziger Jahren oft Ferien gemacht – »in schöner frischer bergluft«. 24 An Kindheitserinnerungen anknüpfend verbrachte George von 1921 an jeden Sommer ein paar Wochen in Königstein. 25 Umsorgt wurde er auch hier von der Schwester Anna, die das Haus in Bingen nach dem Tod der Mutter komplett vermietet und sich 1918 in Königstein niedergelassen hatte. Von März 1920 bis zum
Juli 1932 bewohnte sie zwei Zimmer im ersten Stock der Pension Fricke in der Limburgerstraße, am Rande des Ortes. 26 Der jüngere Bruder Fritz, der das väterliche Weingeschäft seit 1902 mit einem Compagnon von Frankfurt aus weiterführte, wohnte während der Sommermonate ebenfalls in Königstein.
Nach dem Tod von Fritz im Januar 1925 und der Auflösung des väterlichen Unternehmens dachte George daran, das hochverschuldete Binger Haus zu verkaufen. Die Schwester sträubte sich. Als der Mieter des Obergeschosses 1931 mit der Miete in Rückstand geriet und Anna dadurch in eine finanziell prekäre Situation brachte, kündigte sie ihm und leitete ihre Rückkehr nach Bingen ein. »Da ich weiss wie wenig Du das binger haus liebst, kann ich diesen plan nicht mit reiner freude begrüssen«, schrieb ihr George, aber die Schwester setzte sich durch. 27 Am 1. Juli 1932, zwei Jahre, nachdem die Franzosen mit dem Inkrafttreten des Young-Plans die besetzten Gebiete hatten räumen müssen, zog sie zurück ins Elternhaus. Das Untergeschoss blieb weiterhin an den Handelsvertreter Ernst Luckmann vermietet. Bei Georges Tod lag auf dem Haus noch immer eine hohe Hypothek, die der Erbe Robert Boehringer auslöste; nach dem Tod von Anna George 1938 übertrug er das Haus der Stadt Bingen mit der Maßgabe, es als Gedenkstätte zu erhalten. Im Dezember 1944 wurde es bei einem
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