Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
gewesen, das gesamte lateinische Europa mit Polen einschließlich zu sammeln gegen die Gegenkräfte: im Westen England, Amerika, im Osten Russland.« 11
Nicht nur Immigranten aus Lothringen, auch die Fürsten im Süden und Südwesten Deutschlands hatten allen Grund, dem Kaiser ein ehrendes Angedenken zu bewahren. Wer von ihnen 1806 dem Rheinbund beigetreten war und damit das Ende des alten Reichs beschleunigt hatte, war von Napoleon reichlich belohnt worden: Sachsen, Bayern und Württemberg jeweils mit einer Königskrone, der Landgraf von Hessen immerhin mit dem Titel eines Großherzogs. Auf dem Wiener Kongress fiel ein großer Brocken aus der linksrheinischen französischen Erbmasse an Hessen: das gesamte Gebiet von Worms über Mainz bis Bingen samt Hinterland. Um diesen Besitz in seinem Titel zu verankern, nannte sich Ludwig I. von 1816 an Großherzog von Hessen und bei Rhein. Außerdem hatte er jetzt Anspruch auf die Anrede Königliche Hoheit.
Der Fürst und seine neuen Untertanen auf der linken Rheinseite fanden Gefallen aneinander. Das Land prosperierte, auch wenn, wie überall im Gebiet des Deutschen Bundes, die Zahl der Auswanderer nach Übersee um die Mitte des Jahrhunderts ungeahnte Ausmaße annahm. 1866, im Krieg um die Vorherrschaft im Bund zwischen
Preußen und Österreich, schlug sich Ludwig III., von seinem Minister Dalwigk schlecht beraten, auf die falsche Seite, und so kam zwei Jahre vor der Geburt Stefan Georges fast ganz Hessen unter preußische Besatzung. Nur seiner Verwandtschaft mit den Romanows und Queen Victoria, deren zweite Tochter mit seinem Neffen verheiratet war, hatte der Hesse es zu verdanken, dass ihm das Schicksal der Besiegten erspart blieb und er mit der Zahlung von drei Millionen Gulden Kriegskosten davonkam. Seine Nachbarn im Norden, Hessen-Kassel und Nassau, verloren ihre Selbständigkeit, das stolze Frankfurt seinen Status als Freie Reichsstadt. Gemeinsam bildeten die drei fortan die preußische Provinz Hessen-Nassau.
Im Westen stieß das Großherzogtum Hessen schon seit 1815 unmittelbar an Preußen. Die Nahe bildete die Grenze; Bingen gehörte zu Hessen, Bingerbrück auf der anderen Seite als Teil der preußischen Rheinprovinz zum Regierungsbezirk Koblenz. Wenn George aus dem Fenster sah – bis Ende der neunziger Jahre bewohnte er ein Zimmer im oberen Stock, dann zog er in das ehemalige Kontor, den Raum unten links neben dem Eingang -, schaute er nach Preußen. Am gegenüberliegenden Ufer hatte er die Weinberge der Elisenhöhe vor Augen, einen kleinen Kamm, den ein griechisches Tempelchen schmückte. In einer der für ihn typischen Gesprächsäußerungen der zwanziger Jahre fasste er den politischen Raum, in dem er als Kind groß wurde, so zusammen:
Wie man in Bingen, wo seit der Napoleonszeit die Marientage nicht mehr gefeiert wurden, sagte: drüben im Preußischen ist Feiertag, und wie der Lehrer drüben in Preußen, seine Schüler warnend, von einem erzählte, der seine griechischen Vokabeln nicht gelernt hatte – und was ist aus ihm geworden? Drüben im Hessischen ist er gestorben! Und der Schulrat in Hessen: wer ist der äußere Feind? – Die Franzosen. – Der innere? – Die Preußen! 12
Bismarck tauchte in dieser Erinnerung nicht auf. Georges Verhältnis zum Reichsgründer war stets ambivalent gewesen. Nach Bismarcks Tod im März 1899 hatte er im Umfeld der sogenannten Zeitgedichte ein vierstrophiges Preisgedicht geschrieben, das er bei einer privaten Lesung im Oktober 1902 einmal vortrug. Aber es befriedigte ihn
nicht. 23 Zeilen, mit diversen Änderungen und Hinweisen versehen, hat er damals ausgeschnitten und aufgeklebt und bis zu seinem Tod mit sich geführt. Die Gründung des Deutschen Reiches war in Georges Augen zwar eine epochale, mit List und Klugheit erdachte politische Tat. Weil sich Bismarck aber als Herold eines plumpen Materialimus entpuppt hatte, mangelte es dem neuen Staat an Visionen. Von geflügelten Worten im Stil des »Wir Deutsche fürchten Gott …« ließen sich nur Einfältige begeistern, hieß es im Bismarck-Fragment: »Für gimpel leim«. Das Reich sei verkommen, weil sein Gründer nicht sinnstiftend gewirkt und nichts hinterlassen habe, was den Deutschen zur Verheißung hätte werden können: »nie wort das niederzwang / Uns staunend noch vorm korsischen kometen...« 13
Im provozierenden Vergleich mit dem Heros der Franzosen schnitt der märkische Junker selbstredend schlecht ab. Bismarck sei ein bloßer Machtpolitiker gewesen, der die
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