Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Besatzungsmacht und wurde Gemeindeeinnehmer von Büdesheim. Er verstand es, sich trotz der undankbaren Aufgabe als Fremder beliebt zu machen, wurde schnell integriert und heiratete in die Familie des Bürgermeisters ein. Als zehn Jahre später die Franzosen an allen Fronten den Rückzug antraten und die alte deutsch-französische Grenze im Großen und Ganzen wiederhergestellt wurde, blieb Johann Baptist George in Büdesheim. 1818, drei Jahre nach dem Wiener Kongress, holte er, der selbst kinderlos geblieben war, seinen zwölfjährigen Neffen Etienne nach. Als dessen Vater 15 Jahre später starb, ließ Johann Baptist auch die Witwe, seine Schwägerin, mit ihrem zweiten Sohn Anton nach Büdesheim kommen.
Etienne, der Neffe, der sich jetzt Stephan nannte, setzte die Karriere seines Onkels fort. Er brachte es 1837 zum Bürgermeister von Büdesheim, gehörte dreißig Jahre dem Hessischen Landtag an und krönte seine Abgeordnetenlaufbahn 1872 mit dem Posten des Vizepräsidenten der Zweiten Kammer. Seine männlichen Nachkommen überlebten ihn nicht. Der Sohn starb 1860, der einzige Enkel fünf Jahre später im Alter von sechs Jahren. Ein Vierteljahrhundert stand die Gipsbüste, die man nach der Totenmaske des Kindes gefertigt hatte, in einer Glasvitrine auf dem großen Schrank im Salon seines Hauses, »das hinterköpfchen stark hervortretend und um den mund schon den ansatz zur falte die man später die schmerzensfalte nennt«. 3
Die Bauern, erzählte George später gern, hätten das Haus seines Büdesheimer Großonkels, des Bürgermeisters und Landtagsabgeordneten Stephan George, ehrfurchtsvoll Haus der hundert Fenster genannt. In Wirklichkeit hatte das Haus, ein langgestreckter einstöckiger Bruchsteinbau, wie er in den wohlhabenden Straßendörfern an Rhein, Main und Neckar typisch ist, zwölf Fenster oben,
neun Fenster unten, dazu eine gut proportionierte Toreinfahrt. Für Büdesheimer Verhältnisse ein Palast. Auch Georges Geburtshaus, die Wirtschaft »Zur Traube« ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite, konnte mit dem herrschaftlichen Anwesen des »ohm« nicht konkurrieren. In späteren Jahren neigte George dazu, die genauen Verwandtschafts- und Besitzverhältnisse zu verwischen, und sprach gern von »dem schönen Haus seiner Großeltern in Büdesheim«. 4
Georges leiblicher Großvater, jener Anton George, der seinem Onkel 1833, zusammen mit seiner Mutter, nach Büdesheim gefolgt war, hatte ebenfalls Karriere gemacht, wenn auch eine weniger spektakuläre. Von Beruf Küfer und im Zuge seiner Heirat mit einer Einheimischen 1838 naturalisiert, betrieb er einen Weinhandel und genoss Ansehen als Wirt der »Traube«. Sein 1841 geborener Sohn Stephan stand zunächst mit am Tresen, konzentrierte sich dann auf das Weingeschäft und zog 1873 in das benachbarte Bingen, den Hauptumschlagplatz für die Weine der Nahe, die von hier, als Rheinwein deklariert, in alle Welt verschifft wurden.
Im Mai 1865 hatte Stephan George geheiratet. Die Partie mit der gleichaltrigen Eva Schmitt von der Neumühle am Fuß des Scharlachkopfs, an der Straße nach Bingen, bedeutete einen gesellschaftlichen Aufstieg. Die Schmitts, seit mindestens drei Generationen an der oberen Nahe zu Hause, wo sie einige Mühlen besaßen, waren eine weitverzweigte, selbstbewusste Sippe. In der Hauptlinie erhielt der Älteste seit je den Vornamen Saladin, der jeden daran erinnern sollte, dass die Vorfahren an den Kreuzzügen teilgenommen hätten. Das war historisch zwar Unsinn, denn solche Ahnen konnte allenfalls der Hochadel vorweisen – nach Stendhal sein einziges wirkliches Privileg -, aber wer hätte den Schmitts ihre Legende von der Morgenlandfahrt ernsthaft streitig machen wollen. Was den Georges die hundert Fenster, waren den Schmitts die Saladins: In der Provinz gelten eigene Maßstäbe, vor allem, wenn es um die Familie geht.
Fast auf den Tag neun Monate nach der Eheschließung von Stephan und Eva George kam am 16. Februar 1866 die Tochter Anna
Maria Ottilie zur Welt. Knapp zweieinhalb Jahre später, am 12. Juli 1868, folgte Stephan Anton, und noch einmal zweieinhalb Jahre später, am 26. Dezember 1870, das dritte und letzte Kind, Friedrich Johann Baptist. (Alle drei blieben unverheiratet und ohne Nachkommen.) Nach der Geburt der Kinder hatte sich die junge Familie zum Umzug in das drei Kilometer nördlich gelegene Bingen entschlossen. In der Hinteren Grube, Ecke Nahekai, erwarb man ein solides, geräumiges Haus aus buntem Rotsandstein mit
Weitere Kostenlose Bücher