Stefan Zweig - Gesammelte Werke
eingebaut in die Bahn unseres Bluts und von seinen Wellen überströmt, ein lebendiges Organ, allen Wandlungen und Verwandlungen unterworfen und durchaus kein Gefrierschrank, kein stabiler Konservierungs-Apparat, in dem jedes einstige Gefühl sein natürliches Wesen, seinen urtümlichen Duft, seine historisch gewesene Form behält. In diesem Fließenden und Durchströmten, das wir eilfertig in einen Namen fassen und Gedächtnis nennen, verschieben sich die Ereignisse wie Kiesel am Grunde eines Bachs, sie schleifen sich eins am andern ab bis zur Unkenntlichkeit. Sie passen sich an, sie ordnen sich um, sie nehmen in geheimnisvoller Mimikry Form und Farbe unseres Wunschwillens an. Nichts oder fast gar nichts bleibt unentstellt erhalten in diesem transformatorischen Element; jeder spätere Eindruck verschattet den früheren, jede Neu-Erinnerung lügt die ursprüngliche bis zur Unkenntlichkeit und oft Gegenteiligkeit um. Stendhal hat als erster diese Unredlichkeit des Gedächtnisses und die eigene Unfähigkeit zur absoluten historischen Treue einbekannt; sein Geständnis, daß er nicht mehr unterscheiden könne, ob das Bild, das er als »Übergang über den Großen Sankt Bernhard« in sich finde, wirklich Erinnerung an die selbsterlebte Situation sei oder Erinnerung bloß an eine später gesehene Kupferstich-Darstellung dieser Situation, darf als klassisches Beispiel gelten. Und Marcel Proust, sein Geisterbe, führt diese Umstimmungsfähigkeit des Gedächtnisses noch schlagender an dem Exempel durch, wie der Knabe die Schauspielerin Berma in einer ihrer berühmtesten Rollen erlebt. Noch ehe er sie gesehen hat, baut er sich aus der Phantasie ein Vorgefühl, dieses Vorgefühl löst sich vollkommen und verschmilzt in dem unmittelbaren Sinneseindruck; dieser Eindruck wird wiederum getrübt durch die Meinung seines Nachbars, am nächsten Tage abermals verwischt und entstellt durch die Kritik der Zeitung; und als er Jahre später die gleiche Künstlerin in derselben Rolle sieht, er ein anderer und sie eine andere seitdem, vermag schließlich seine Erinnerung nicht mehr festzustellen, was eigentlich der ursprüngliche »wahre« Eindruck gewesen. Das mag als Symbol gelten für die Unverläßlichkeit jeder Erinnerung: das Gedächtnis, dieser scheinbar unerschütterliche Pegel aller Wahrhaftigkeit, ist selbst schon Feind der Wahrheit, denn ehe ein Mensch sein Leben zu schildern anheben kann, war in ihm ein Organ bereits produzierend statt reproduzierend tätig, das Gedächtnis hat unaufgefordert selbst schon alle dichterischen Funktionen geübt, so da sind: Auslese des Wesentlichen, Verstärkung und Verschattung, organische Gruppierung. Dank dieser schöpferischen Phantasiekraft des Gedächtnisses wird also unwillkürlich jeder Darsteller eigentlich Dichter seines Lebens: dies hat der weiseste Mensch unserer neuen Welt gewußt, Goethe, und der Titel seiner Autobiographie mit dem heroischen Titel »Dichtung und Wahrheit« gilt für jede Selbstkonfession.
Kann derart keiner »die« Wahrheit, die absolute seines eigenen Daseins aussagen, und muß jeder Selbstbekenner zwanghaft bis zu einem gewissen Grade Dichter seines Lebens werden, so wird doch gerade die Anstrengung, wahr zu bleiben, das Höchstmaß ethischer Ehrlichkeit in jedem Bekenner herausfordern. Zweifellos ist die »Pseudokonfession«, wie sie Goethe nennt, das Beichten sub rosa, in der durchsichtigen Verhüllung des Romans oder des Gedichts, ungleich leichter und oftmals auch im künstlerischen Sinne eindringlicher, als die Darstellung mit aufgezogenem Visier. Aber eben weil hier nicht nur Wahrheit gefordert ist, sondern die nackte Wahrheit, stellt die Selbstbiographie einen besonders heroischen Akt jedes Künstlers dar, denn nirgends wird der sittliche Umriß eines Menschen so vollkommen verräterisch wie in seinem Selbstverrat. Nur dem gereiften, dem seelisch wissenden Künstler kann sie gelingen; darum ist auch die psychologische Selbstdarstellung erst so spät in der Reihe der Künste erschienen; sie gehört einzig unserer, der neuen und der noch werdenden Zeit. Erst mußte das Wesen Mensch seine Kontinente entdeckt, seine Meere durchmessen, seine Sprache erlernt haben, ehe es den Blick wandte in das Weltall seines Innern. Das ganze Altertum ahnt noch nichts von diesen geheimnisvollen Wegen: seine Selbstschilderer, Cäsar und Plutarch, reihen nur Fakten und sachliche Geschehnisse aneinander und denken nicht daran, nur einen Zoll tief ihre Brust zu eröffnen. Bevor er
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