Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
jemals die Blätter wieder zu überlesen, um Stil, um Einheitlichkeit, um methodische Plastik so vollkommen unbekümmert, als wäre das Ganze nur ein Privatbrief an seinen Freund: »J’écris ceci sans mentir, j’espère sans me faire illusion, avec plaisir comme une lettre à un ami.« An diesem Satz ist jedes Wort wichtig: Stendhal schreibt seine Selbstdarstellung, »wie er hofft«, wahrhaft, »ohne sich Illusionen zu machen«, »mit Vergnügen«, und »wie einen Privatbrief«, und dies, »um nicht kunsthaft zu lügen wie Jean-Jacques Rousseau«. Bewußt opfert er die Schönheit seiner Memoiren der Aufrichtigkeit, die Kunst der Psychologie.
    In der Tat, rein artistisch gesehen, bedeutet der »Henri Brulard«, ebenso wie seine Fortsetzung, die »Souvenirs d’un égotiste« eine dubiose Kunstleistung: dazu sind beide zu eilfertig, zu lässig, zu planlos hingespritzt. Was Stendhal an Erinnerungsfakten gerade in die Finger kommt, wirft er blitzschnell in das Buch hinein, gleichgültig, ob sie an jene Stelle hinpassen oder nicht. Genau wie in seinen Notizbüchern nachbart das Sublimste mit dem Seichtesten, abwegige Allgemeinheiten mit den intimsten Personalien. Aber gerade diese Ungezwungenheit, dies Sicherzählen in Hemdsärmeln verrät allerhand Aufrichtigkeiten, von denen jede einzelne seelendokumentarischer wirkt als sonst ein Folioband. Geständnisse jener entscheidenden Art wie das berüchtigte über seine gefährliche Neigung zur Mutter, den tierischen tödlichen Haß gegen den Vater, solche bei andern feig in die Winkel des Unterbewußtseins verkrochene Augenblicke wagen sich nicht heraus, sobald ein Zensor Zeit hat, sie zu überwachen: diese intimsten Dinge sind – man kann es nicht anders sagen – durchgepascht in der Sekunde absichtsvoll erzwungener moralischer Unachtsamkeit. Nur durch dieses geniale Psychologensystem, daß Stendhal seinen Empfindungen niemals Zeit läßt, sich auf »schön« oder »moralisch« zu frisieren, hat er sie wirklich gepackt, wo sie am kitzligsten sind, wo sie anderen, Plumperen, Langsameren aufschreiend wegspringen: nackt, vollkommen seelennackt und noch völlig schamlos stehen diese ertappten Sünden und Sonderlichkeiten plötzlich auf glattem Papier und starren zum erstenmal Menschenblicken in die Augen. Welch wunderbare, tragisch wilde Beängstigungen, welche dämonisch urmächtigen Zorngefühle brechen da aus einem winzigen Kinderherzen auf! Kann man die Szene vergessen, wie der kleine Henri, als die ihm verhaßte Tante Seraphie stirbt (»einer der beiden Teufel, die auf meine arme Kindheit losgelassen waren« – der andere war der Vater), wie das verbitterte, ureinsame Kind »in die Knie fällt und Gott dankt«. Und knapp daneben (bei Stendhal verschränken sich die Gefühle labyrinthisch vielfältig) jene kleine Bemerkung, daß selbst dieser Teufel einmal die erotische Frühreife des Kindes eine (genau beschriebene) Sekunde lang reizte. Kaum hat man jemals vor Stendhal gespürt, wie vielfach der Mensch geschichtet ist, wie das Konträrste und Widerspaltigste an den äußersten Nervenenden sich berührt, wie schon die unflügge Kinderseele das Gemeine und das Erhabenste, Brutalität und Zartheit in ganz dünnen Lagen, Blatt über Blatt zusammengefaltet enthält; und gerade mit diesen ganz zufälligen achtlosen Entdeckungen beginnt eigentlich erst die Analytik in der Selbstbiographie.
    Denn gerade diese Lässigkeit, diese Indifferenz gegen Form und Architektur, gegen Nachwelt und Literatur, gegen Moral und Kritik, das herrlich Private und Selbstgenießerische dieses Versuchs macht Henri Brulard zu einem unvergleichlichen Seelendokument. In seinen Romanen wollte Stendhal immerhin noch Künstler sein; hier ist er nur Mensch und Individuum, beseelt von Neugier nach sich selbst. Sein Selbstbildnis hat den unbeschreiblichen Reiz des Fragmentarischen und die spontane Wahrheit des Improvisierten; man kennt Stendhal niemals zu Ende aus seinem Werke und nicht aus seiner Selbstbiographie. Unablässig fühlt man sich von neuem herangelockt, seine Rätselhaftigkeit zu enträtseln, im Erkennen ihn zu verstehen, im Verstehen ihn zu erkennen. So wirkt seine zwielichtfarbene, heißkalte, von Nerv und Geist vibrierende Seele noch heute leidenschaftlich ins Lebendige weiter; indem er sich selbst gestaltete, hat er seine Neugierlust und Seelenseherkunst in ein neues Geschlecht hineingestaltet und uns alle die funkelnde Freude des Selbstbefragens und Selbstbelauschens gelehrt.

Gegenwart

Weitere Kostenlose Bücher