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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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oder sieben beziffert); hätte er wie andere Glück in der Liebe gehabt, nie wäre er genötigt gewesen, so beharrlich der Frauenpsyche, ihren feinsten, zartesten Emanationen nachzulauschen: an den Frauen hat Stendhal seine Seele überprüfen gelernt, auch hier schult eine Zurückgedrängtheit den Beobachter zum vollendeten Kenner.
    Daß diese systematische Selbstbeobachtung Stendhals dann aber außergewöhnlich früh zur Selbstdarstellung führt, hat noch einen besonderen und höchst sonderbaren Grund: Stendhal hat ein schlechtes – oder besser gesagt, ein sehr eigenwilliges und kapriziöses Gedächtnis, jedenfalls ein unverläßliches, und deshalb läßt er den Bleistift nie aus der Hand. Ununterbrochen notiert und notiert er: an den Rand der Lektüre, auf lose Blätter, auf Briefe, vor allem in sein Tagebuch. Seine Furcht, wichtige Erlebnisse zu vergessen und so die Kontinuität seines Lebens (dieses einzigen Kunstwerkes, an dem er planhaft und dauerhaft arbeitet) zu unterbrechen, bewirkt, daß er jede Gefühlserregung, jedes Geschehnis immer sofort schriftlich fixiert. Er schreibt auf einen Brief der Gräfin Curial, einen erschütternden, von Schluchzen zerfetzten Liebesbrief, mit der steinernen Sachlichkeit eines Registrators das Datum, wann ihr Verhältnis begonnen und wann es geendet, er notiert, wann und um wieviel Uhr er Angela Pietragrua endlich besiegte; oft hat man den Eindruck, er beginne erst zu denken mit der Feder in der Hand. Dieser nervösen Graphomanie danken wir schließlich sechzig oder siebzig Bände Selbstdarstellung in allen erdenkbaren dichterischen, brieflichen und anekdotischen Äußerungen (noch heute kaum zur Hälfte publiziert). Nicht ein eitler oder exhibitionistischer Bekenntnisdrang, sondern die egoistische Angst, auch nur einen Tropfen jener nie wieder beschaffbaren Substanz Stendhal in seinem undichten Gedächtnis versickern zu lassen, hat uns eigentlich die Biographie Stendhals so vollkommen konserviert.
    Diese Sonderbarkeit seines Gedächtnisses hat Stendhal wie alles, was ihm gehörte, mit einer hellseherischen Deutlichkeit analysiert. Zunächst stellte er fest, daß sein Erinnerungsvermögen erzegotistisch ist. »Je manque absolument de mémoire pour ce qui ne m’intéresse pas.« Darum behält er so wenig vom Außerseelischen, keine Zahlen, keine Daten, keine Fakten, keine Orte; er vergißt von wichtigsten historischen Ereignissen alle Einzelheiten vollkommen; er merkt sich bei Frauen oder Freunden (selbst bei Byron und Rossini) nicht, wann er ihnen begegnet ist; aber fern, diesen Defekt zu leugnen, gibt er ihn unbedenklich zu: »je n’ai de prétention à la véracité qu’en ce qui touche mes sentiments«. Nur insoweit einmal seine Empfindung getroffen war, übernimmt Stendhal die Garantie für sachliche Wahrhaftigkeit; ausdrücklich »protestiert« er in einem seiner Werke »er vermesse sich niemals, die Realität der Dinge zu schildern, sondern einzig den Eindruck, den sie ihm hinterließen« (»je ne prétends pas peindre les choses en elles-mêmes, mais seulement leur effet sur moi«). Nichts beweist also deutlicher, daß für Stendhal die Geschehnisse an sich, »les choses en elles-mêmes«, gar nicht existent werden, sondern nur insoweit, als sie sich in Seelenerregung auswirken: dann freilich setzt dies absolut einseitige Gefühlsgedächtnis mit einer Schärfe ohnegleichen ein, und der vollkommen unsicher ist, ob er Napoleon jemals gesprochen, und nicht weiß, ob er sich an den Übergang über den Großen Sankt Bernhard wirklich erinnert oder bloß an einen Kupferstich, ebenderselbe Stendhal erinnert sich der flüchtigen Geste einer Frau, eines Tonfalls, einer Bewegung mit Diamantklarheit, insofern er einmal innerlich von ihr erregt gewesen. Überall, wo das Gefühl unbeteiligt blieb, lagern reglose dunkle Nebelschichten oft über Jahrzehnte – und sonderbarer noch, auch wo das Gefühl wiederum allzu vehement einsetzte, auch da ist bei Stendhal das Erinnerungsvermögen zerstört. Hundertemal und gerade in den spannendsten Augenblicken seines Lebens (bei der Schilderung des Alpenüberganges, der Reise nach Paris, der ersten Liebesnacht) wiederholt er die Feststellung: »Ich habe daran keine Erinnerung mehr, die Empfindung war zu vehement.« Außerhalb dieser also eng begrenzten Gefühlssphäre ist Stendhals Gedächtnis (und damit auch seine Künstlerschaft) niemals einwandfrei: »Je ne retiens que ce qui est peinture humaine. Hors de là je suis nul«: einzig

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