Stefan Zweig - Gesammelte Werke
leidenschaftlich zu betrachten, und dann, von Freunden beobachtet, rasch sich seitlings wendet, um die Träne nicht zu verraten, die ihm die Augen überströmt. Kein Dichter der Gegenwart, auch Walt Whitman nicht, hat die physische Lust der irdischen, der fleischlichen Organe so stark empfunden, wie dieser russische Mensch mit seiner Sinnenbrünstigkeit Pans und der großen Allgegenwart eines antikischen Gottes. Und man begreift sein stolz-überschwengliches Wort: »Ich selbst bin Natur.«
Unerschütterlich, selbst ein Weltall im Weltall, wurzelt also dieser massige weitwipflige Mann in seiner moskowitischen Erde: nichts, meint man, könnte darum seine mächtige Weltlichkeit erschüttern. Aber die Erde, selbst sie bebt manchmal, vom Seismos berührt, und so taumelt manchmal, media in vita, mitten aus seiner Sicherheit Tolstoi empor. Mit einem Mal wird das Auge starr, die Sinne schwanken und greifen ins Leere. Denn irgend etwas ist in sein Blickfeld getreten, das er nicht fassen kann, etwas, was außen bleibt von der warmen Leibes- und Lebensfülle, etwas, was er nicht versteht, so sehr auch alle Nerven sich spannen – unfaßbar bleibend für ihn, den Sinnenmenschen, weil nicht Ding dieser Erde, ein Stoff, den er nicht ansaugen und amalgamieren kann, etwas, was verweigert, sich antasten, abwägen, einordnen zu lassen in das allzeit durstige Weltgefühl. Denn wie den Schreckgedanken fassen, der plötzlich den runden Raum der Erscheinung zerschneidet, wie sich’s ausdenken, daß diese strömenden, atmenden Sinne einmal stumm sein könnten und taub, die entfleischte Hand ohne Gefühl, daß dieser nackte gute Leib, jetzt noch durchwärmt vom Geström des Blutes, Wurmfraß werden könnte und steinkaltes Skelett? Wie, wenn das auch in ihn einbräche, heute oder morgen, dieses Nichts, dieses Schwarze, dieses Dahintersein, dieses nicht Abzuwehrende, wenn es einbräche, das Unsinnlich-Gegenwärtige, in ihn, der eben noch strotzt von Säften und Mächten? Immer wenn Tolstoi der Gedanke an die Vergänglichkeit überfällt, stockt ihm das Blut. Die erste Begegnung geschieht dem Kinde: man führt ihn zur Leiche der Mutter, da liegt etwas kalt und starr, das gestern noch Leben war. Achtzig Jahre lang kann er den Anblick nicht vergessen, den er damals sich noch nicht in Gefühl und Gedanken zu erläutern vermag. Aber einen Schrei stößt das fünfjährige Kind aus, einen entsetzten, gellenden Schrei und flüchtet in toller Panik aus dem Zimmer, alle Erinnyen der Angst hinter sich her. Immer fällt so stoßhaft, so erdrosselnd der Todesgedanke über ihn her, wie sein Bruder stirbt, sein Vater, seine Tante: immer fährt sie ihm kalt über das Genick, diese eisige Hand, und reißt ihm die Nerven entzwei.
1869, noch vor der Krise, aber nur knapp ihr voraus, schildert er das weiße Entsetzen, la blanche terreur, eines solchen Überfalls. »Ich versuchte mich niederzulegen, aber kaum hingestreckt, reißt mich ein Entsetzen wieder empor. Es ist eine Angst, eine Angst wie vor dem Erbrechen, irgend etwas zerreißt mein Dasein in Stücke, ohne es aber ganz zu zerreißen. Ich versuche, noch einmal zu schlafen, aber der Schrecken war da, rot, weiß, irgend etwas zerreißt in mir und hält mich dennoch zusammen.« Das Furchtbare ist geschehen: ehe der Tod auch nur einen Finger in Tolstois Leibe hat, vierzig Jahre vor seinem wirklichen Tode, ist sein Vorgefühl schon in die Seele des Lebendigen gedrungen, nie mehr ganz zu verjagen. Große Angst sitzt nachts an seinem Bette, sie frißt an der Leber seiner Lebensfreude, sie hockt zwischen den Blättern seiner Bücher und zernagt die angefaulten schwarzen Gedanken.
Man sieht: übermenschlich wie seine Vitalität ist Tolstois Todesangst. Zaghaft wäre es, sie noch Nervenfurcht zu nennen, vergleichbar etwa der neurasthenischen eines Novalis, der melancholischen Überschattung Lenaus, der Phobie Edgar Allan Poes, dem mystischen Wollustgrauen – nein, hier bricht ein ganz tierisch-nackter, ein barbarischer Terror heraus, ein krasses Entsetzen, ein Angstorkan, eine Panik des auf geschmetterten Lebenssinns. Nicht wie ein mannhaft-heroischer Geist erschrickt Tolstoi vor dem Tode, sondern gleichsam von rotglühendem Eisen gebrandmarkt und nun lebenslänglich Sklave dieses Grauens zuckt er auf, gell schreiend, unbeherrscht: seine Angst entlädt sich als durchaus bestialische Schreckexplosion, als Schock – die menschgewordene Urangst aller Kreatur. Er will sich nicht anfassen lassen von diesem
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