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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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beginnt er fortab mit den mystischen drei Buchstaben W. i. l. (»Wenn ich lebe«), jeder Monat verzeichnet durch Jahre die Selbsterinnerung: »Ich nähere mich dem Tode.« Er gewöhnt sich, ihm ins Auge zu sehn. Gewöhnung aber erledigt die Fremdheit, besiegt die Furcht – so wird in dreißig Jahren Widerstreit mit dem Tode aus dem Außensein ein Innensein, aus dem Feinde eine Art Freund. Er zieht ihn an sich heran, in sich herein, macht den Tod zum seelischen Bestandteil seines Lebens und damit die ursprüngliche Angst »gleich Null« – »man braucht nicht über ihn nachzudenken, man muß ihn aber immer vor sich sehen. Das ganze Leben wird dann festlicher, wichtiger und wahrhaft fruchtbarer und freudiger«. Aus der Not ist eine Tugend geworden – Tolstoi hat (ewige Rettung des Künstlers!) seine Angst überwunden, indem er sie objektiviert; er hat den Tod und die Todesangst von sich weg entfernt, indem er sie in andere, in seine Geschöpfe hineingestaltet. So wird, was anfangs vernichtend schien, nur Vertiefung des Lebens und höchst unerwarteterweise die großartigste Steigerung seiner Kunst: dank seiner angstvollen Durchforschung, des tausendmaligen Voraussterbens in der Phantasie, wird gerade dieser leidenschaftlichste Vitalist zum wissendsten Darsteller des Sterbens, zum Meister aller, die jemals den Tod gebildet. Angst, immer ist sie, die der Wirklichkeit vorauseilende, sie, die phantasiebeflügelte, immer ist sie ja schöpferischer als das stumpfe und dumpfe Gesundsein – wie aber erst eine so schauernde, panische, jahrzehntelang wache Urangst, der heilige Horror und Stupor eines Gewaltigen! Ihr zum Dank kennt Tolstoi alle Symptome des leiblichen Verlöschens, jeden Zug, jedes Zeichen, den der Grabstichel des Thanatos einzeichnet in das vergehende Fleisch, jeden Schauer und Schreck der versinkenden Seele: mächtig fühlt der Künstler sich angerufen von dem eigenen Wissen. Das Sterben des Iwan Iljitsch mit seinem gräßlich heulenden »Ich will nicht«, »Ich will nicht«, das erbärmliche Verlöschen von Lewins Bruder, die vielfältigen Lebensloslösungen in den Romanen, die »Drei Tode« – all dieses hinabgebeugte Lauschen über den äußersten Rand des Bewußtseins, Tolstois größte psychologische Leistungen, undenkbar wären sie ohne jenes katastrophale Erschüttertsein, diese Durch-und-durch-Aufgewühltheit selbsterlittenen Grausens; um diese hundert Tode zu schildern, mußte Tolstoi seinen eigenen Tod bis in die feinsten Faserungen des Gedankens hundertmal in der zerrütteten Seele vorgelebt, nachgelebt, mitgelebt haben: nur die vorahnende Angst hat seine Kunst vom Flächigen, vom bloßen Anschauen und Abmalen der Realität, in die Tiefe des Wissens getrieben; nur sie hat ihn nach rubens-sinnlicher Wirklichkeitsfülle auch dies von innen vorbrechende, gleichsam metaphysische Rembrandt-Licht inmitten der tragischen Verschattung gelehrt. Einzig, weil Tolstoi den Tod vehementer als alle inmitten des Lebens vorausgelebt, hat er ihn wie kein zweiter für uns alle lebendig gemacht.
    Jede Krise ist ein Geschenk des Schicksals an den schaffenden Menschen: so entsteht, genau wie in Tolstois Kunst, auch in seiner weltgeistigen Haltung schließlich ein neues und höheres Gleichmaß. Die Gegensätze durchdringen einander, der furchtbare Streit der Lebenslust mit ihrem tragischen Widerpart weicht einer weisen und harmonischen Verständigung. Ganz im Sinne Spinozas ruht das endlich beruhigte Gefühl in reiner Schwebe zwischen Furcht und Hoffnung der letzten Stunde: »Es ist nicht gut, sich vor dem Tode zu fürchten; es ist nicht gut, ihn zu wünschen. Man muß den Waagbalken so stellen, daß der Zeiger gerade steht und keine Schale überwiegt: das sind die besten Bedingungen des Lebens.«
    Die tragische Dissonanz ist endlich harmonisiert. Der Greis Tolstoi hat keinen Haß mehr wider den Tod und keine Ungeduld ihm entgegen; er flieht ihn nicht mehr, er bekämpft ihn nicht mehr: er träumt ihn bloß in linden Meditationen, wie ein Künstler ahnend plant an unsichtbar schon gegenwärtigem Werke. Und gerade die letzte, die lang gefürchtete Stunde schenkt ihm darum vollendete Gnade: ein Sterben, groß wie sein Leben, das Werk seiner Werke.

Der Künstler
    Es gibt kein wahres Vergnügen außer jenem, das dem Schaffen entspringt. Man kann Bleistifte, Stiefel, Brot und Kinder, das heißt Menschen erzeugen, ohne Schaffen gibt es kein wahres Vergnügen, keines, das nicht mit Angst, Leid, Gewissensbissen und Scham

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