Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Gedanken, er will nicht, er weigert sich und spreizt wie ein Gewürgter abwehrend die Gelenke; denn, vergessen wir nicht, Tolstoi wird vollkommen unvermutet inmitten einer maßlosen Sicherheit überfallen. Diesem moskowitischen Bären fehlt ja zwischen Tod und Leben jede Überleitung – der Tod ist für einen so elementar Gesunden absoluter Fremdstoff, indes für den mittleren Menschen sonst gewöhnlich sich zwischen Tod und Leben eine oft begangene Brücke spannt: die Krankheit. Die andern, die Durchschnittsfünfzigjährigen, haben alle oder die meisten schon ein Stück Tod in sich latent, sein Nahsein ist ihnen kein vollkommenes Außen, keine Überraschung mehr: darum schauern sie nicht so unbeherrscht vor seinem ersten energischen Griff. Ein Dostojewski etwa, der mit verbundenen Augen, der Salve gewärtig, am Pfahl gestanden und in epileptischen Krämpfen jede Woche hinschlägt, sieht als Leidgewöhnter dem Todesgedanken gefaßter ins Auge als der völlig Ahnungslose, der strotzend Gesunde; so fällt ihm auch der Schlagschatten jener vollkommen aufgelösten, beinahe schimpflichen Angst nicht so eisig ins Blut wie Tolstoi, der bei dem ersten Nahegefühl des Gedankens Tod schon zu schlottern beginnt. Ihm, der nur in der Überfülle sein Ich, in dem »Trunkensein von Leben« das Leben einzig vollwertig empfindet, bedeutet die leiseste Verminderung der Vitalität eine Art Krankheit (mit sechsunddreißig Jahren nennt er sich einen »alten Mann«). Eben zufolge dieser Empfindlichkeit trifft ihn der Todesgedanke durch und durch wie ein Schuß. Nur wer so vital das Dasein empfindet, kann absolut komplementär das Nichtsein mit solcher Intensität fürchten; gerade weil sich hier eine wahrhaft dämonische Lebenskraft gegen eine ebenso dämonische Todesangst aufreckt, entsteht bei Tolstoi eine solche Gigantomachie zwischen Sein und Nichtsein, die größte vielleicht der Weltliteratur. Denn nur Riesennaturen leisten riesigen Widerstand: ein Herrenmensch, ein Willensathlet wie Tolstoi kapituliert nicht ohne weiteres vor dem Nichts – sofort nach dem ersten Schock rafft er sich auf, reißt die Muskeln zusammen, um den plötzlich aufgesprungenen Feind zu besiegen: nein, eine prallvolle Vitalität wie die seine gibt sich nicht kampflos besiegt. Kaum erholt von dem ersten Schrecken, verschanzt er sich in Philosophie, zieht die Brücken hoch und überschüttet den unsichtbaren Feind mit Katapulten aus dem Arsenal seiner Logik, um ihn wegzutreiben. Verachtung ist seine erste Gegenwehr: »Ich kann mich für den Tod nicht interessieren, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er, solange ich lebe, nicht existiert.« Er nennt ihn »unglaubwürdig«, behauptet hochfahrend, daß er »nicht den Tod fürchte, sondern nur die Todesfurcht«, er versichert unablässig (durch dreißig Jahre!), daß er ihn nicht fürchte, nicht angstvoll an ihn denke. Aber er täuscht niemanden, nicht einmal sich selbst. Kein Zweifel: der Wall der seelisch-sinnlichen Sicherheit ist beim ersten Ansturm jener Angstneurose schon durchbrochen, und Tolstoi kämpft vom fünfzigsten Jahr nur noch auf Trümmern seines einstigen vitalen Selbstvertrauens. Er muß, Schritt um Schritt zurückweichend, zugeben, daß der Tod nicht bloß »ein Gespenst« sei, »eine Vogelscheuche«, sondern ein höchst respektabler Gegner, den man nicht mit bloßen Worten einschüchtern könne. Und so versucht Tolstoi, ob es nicht möglich wäre, auch innerhalb der unvermeidlichen Vergängnis noch weiter zu existieren, und da man gegen den Tod kämpfend nicht zu leben vermag, mit ihm zu leben.
Erst dank dieser Nachgiebigkeit beginnt eine zweite und nun fruchtbare Phase Tolstois in seinem Verhältnis zum Tode. Er »sträubt sich nicht mehr« gegen sein Vorhandensein, er gibt sich nicht mehr dem Wahn hin, ihn mit Sophismen wegzuhalten – so versucht er, ihn in sein Dasein einzuordnen, seinem Lebensgefühl zu amalgamieren, sich abzuhärten gegen das Unvermeidliche, sich an ihn zu »gewöhnen«. Der Tod ist unbesiegbar, das muß der Lebensriese zugeben, nicht aber die Angst vor dem Tode: so wendet er alle Kraft nun bloß gegen jene Furcht. Wie die spanischen Trappisten allnächtlich in Särgen schlafen, um jede Schrecknis in sich abzutöten, so übt Tolstoi in hartnäckigen täglichen Exerzitien des Willens sich autosuggestiv ein unablässiges Memento mori ein; er zwingt sich, beständig und »mit aller Kraft seiner Seele« an den Tod zu denken, ohne vor ihm zu erschrecken. Jede Tagebuchnotiz
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