Stefan Zweig - Gesammelte Werke
tief innen, ganz tief innen, von der Woge der Sinnlichkeit angefaßt und in abwegige Strömung gerissen. Er aber haßt (oder er fürchtet) um eines wahrscheinlich nur ihm bekannten Übermaßes willen die eigene Blutüberfüllung: darum verfolgt er ja auch » das « Weib mit einem für einen gesunden Menschen unnatürlichen, anachoretischen Haß. »Unschädlich« erscheint die Frau ihm nur, »solange sie von den Aufgaben der Mutterschaft erfüllt ist, im Stande der Sittsamkeit oder in der Vénérabilité des Alters« – also jenseits der Geschlechtlichkeit, die er »als eine schwere Schuld des Leibes sein ganzes Leben empfunden hat«. Das Weib wie die Musik bedeuten diesem Antigriechen, diesem künstlichen Christen, diesem Gewaltmönch das Böse schlechthin, weil beide durch Sinnlichkeit »von den uns angeborenen Eigenschaften des Mutes, der Entschlossenheit, der Vernunft, des Gerechtigkeitsgefühls« ablenken, weil sie uns, wie Pater Tolstoi später predigen wird, »zur Sünde der Fleischlichkeit« führen. Auch die Frauen »wollen etwas von ihm«, das er sich herzugeben weigert; auch sie rühren an etwas Gefährliches, das er aufzuwecken sich fürchtet – und was, dies zu erraten, gehört nicht viel Geist: an seine eigene ungeheuerliche Sinnlichkeit. Musik – da lockert sich das Band des Willens: schon reckt »das Tier« sich auf. Die Frauen – schon röhrt das blutgierige Geheul der Meute und rüttelt an den eisernen Gitterstäben. Nur an Tolstois rasender Mönchsangst, an seinem zelotischen Schauer selbst vor der gesundheiteren, nackt-natürlichen Sinnlichkeit kann man die verborgen panische Männischkeit, die Tiermenschenbrunst in ihm ahnen, die in der Jugend sich noch frei in wildesten Exzessen austobte – einen »unermüdlichen Hurer« nennt er sich Tschechow gegenüber –, um dann gewalttätig durch fünfzig Jahre in Kellergewölben vermauert zu bleiben, vermauert, aber nicht begraben; daß dieses Übergesunden Sinnlichkeit lebenslang ein Übermaß blieb, hat in seinem streng sittlichen Werk nur eines verraten: eben diese seine Angst, seine wüstenväterische, überchristliche, gewaltsam die Augen wegdrehende, polternde Angst vor »dem Weibe«, vor der Versucherin – in Wahrheit aber vor dem eigenen und anscheinend maßlosen Gelüst.
Immer fühlt man das und überall: vor nichts fürchtet sich Tolstoi mehr als vor sich selbst, vor seiner Bärenkraft. Dem manchmal trunkenen Glück über seine Übergesundheit schattet unaufhaltsam ein Grauen vor dem Tierisch-Hemmungslosen der Sinne nach. Gewiß hat er sie gebändigt wie kein zweiter, aber er weiß: man ist nicht ungestraft Russe, also Volksmensch des Übermaßes, Fanatiker der Exzesse, Knecht der Extreme. Darum müdet seine Willensklugheit den eigenen Körper nieder, darum beschäftigt er ständig die Sinne, läßt sie auslaufen, gibt ihnen ungefährliche Spiele, Luftfutter und Lustfutter. Er rackert die Muskeln ab durch berserkerische Anstrengung mit Sense und Pflug, macht sie matt durch gymnastische Spiele; um sie zu entgiften, sie unschädlich zu machen, drängt er seine Kraftgefahren aus dem privaten Leben hinaus in die Natur, und dort entströmt dann überschwenglich, was im Binnendasein der Wille energisch verhält. Seiner Leidenschaften Leidenschaft war darum die Jagd: da können alle Sinne sich ausschwelgen, die hellen wie die dunklen. Der vorapostolische Tolstoi berauscht sich am schweißigen Geruch der Pferde, an der Aufregung tollkühnen Reitens, des nervenspannenden Hetzens und Zielens, an der Angst sogar (unfaßbar dies für den späteren Mitleidsfanatiker), an der Qual des niedergerissenen, blutigen, mit brechenden Augen aufstarrenden Wilds. »Ich empfinde ein wahrhaftes Wonnegefühl bei dem Leiden des verendenden Tieres«, gesteht er, als er einem Wolf mit wuchtigem Stockhieb den Schädel einschmettert, und bei diesem triumphierenden Aufschrei der Blutlust ahnt man erst alle die brutalen Instinkte, die er ein Leben lang (außer in den tollwütigen Jahren der Jugend) in sich niedergehalten hat. Noch zur Zeit, da er aus moralischer Überzeugung der Jagd längst entsagt hat, zucken ihm immer unwillkürlich die Hände schußgierig auf, wenn er einen Hasen im Felde aufspringen sieht. Aber er zwingt diese wie jede andere Lust beharrlich entschlossen nieder; schließlich begnügt seine sinnliche Freude am Körperlichen sich mit dem bloßen Anschauen und Nachbilden des Lebendigen – aber welch eine vehemente und wissende Freude noch immer!
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