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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Interesse für das bunte Spiel, das da durch Stunden auf und nieder rinnt bis in den Abend hinein. Aber noch ruht der Park nicht. Während hier die Flut langsam versickert, stauen sich am anderen Ende bei Marble-Arch gänzlich anders geartete Massen. Improvisierte Rednertribünen sind dort errichtet – jeder hat das Recht, über ein beliebiges Thema zu sprechen –, und da es in England an Sektierern nie fehlte, sieht man dort seltsame Gestalten, oft verlottert und schmutzig, ihre Ansichten unter freiem Himmel vor den willigen Zuhörern entwickeln. Ungewählte Volkstribunen, Agitatoren der verschiedensten Ideen, sprechen sie im flackernden Licht einer Kerze, auf irgendeinen Schemel gestellt, fanatisch auf die Leute und über sie hinaus ins Dunkel hinein, das schon drohend aus den Baumkronen zu sinken scheint. Religiöse Vereine sammeln Gläubige um sich und intonieren fromme Gesänge, die machtvoll über die erlöschende Heide wehen. Noch einmal reckt sich hier das von der Arbeit erlöste Leben empor, um Glut von seiner überhitzten Wärme zu entzünden, und wilde Worte flattern auf, wie drüben die pfeilgeschwinden Wagen durch das Getümmel liefen, vorbei und schon wieder verloren. Und dann, wenn über der Heide das Gespinst von Nebel und Mondlicht hängt, dann summt noch eines auf, das abendliche Finale aller Parke: die Liebe. Verschlungene Paare gleiten ins Dunkel hinein, Flüstern zittert aus tausend Verstecken, der Schatten scheint sich zu beleben und im Vorüberschreiten sieht man das oft verwegene Spiel der »ombres chinoises«. In einem Mollakkord schließt die verschlungene Melodie.
    So lebt der Park Tag für Tag regelmäßig wie ein englischer Geschäftsmann, der seine Stunden besonnen zählt und wertet. Und wie jeder Engländer hat er seinen Sonntag, an welchem er sich das reichbestickte Feiertagskleid vieler Menschen anlegt. Da promeniert nach der Frühmesse in der »churchparade« Englands vornehme Gesellschaft in der großen Allee, wo sonst die Wagen sausen, und wer es liebt, auch ein gleichgültiges Gesicht in die Hülse eines Namens gesteckt zu wissen, kann sich von einem gütigen Freund alle möglichen Earls und Counts zeigen lassen, die da in unheimlicher Korrektheit mit Kind und Kegel auf- und abschreiten. Und nachmittags beherbergt Hydepark die Massen, lockt sie mit blühendem Grün und heiterer Musik in seine Tore. Aber was so eigen ist in diesem Parke: er schluckt alle Massen restlos auf. Es wird keine Fülle, nicht wie in Berlin der Grunewald ein einziger Vespertisch, nicht wie in Wien beim Heimgang aus dem Prater ein flutendes Menschenheer, gehüllt in eine fast alttestamentarische Staubsäule. Hydepark zerbricht, zerschlägt irgendwie alle Massen. Ich habe das bei der großen Arbeiterdemonstration so ganz gefühlt. In den Straßen war es ein endloser Gang, ein flatterndes Heer von Fahnen, ein Qualm von rotem Licht, ein rastloses Gehen, unendliche Flut. Und dann im Parke, da schmolz alles in einen runden Kreis, und rings lagen weite Flächen, die von all dem nichts wußten, und wo die eingehürdeten Lämmer friedlich weideten. Denn das ist das Seltsame an diesem Parke, daß er unübersichtlich ist. Ein Teil weiß vom andern nichts. Selbst die große »Rotten Row« biegt mehrmals um und läuft nicht wie unsere Praterallee, ein eleganter scharfer Kreidestrich, klar durch das Grün. Nie hat man den Hydepark ganz – nie, wie London selbst. Man kann nicht wie in Paris, wenn man von Sacré-Coeur den Montmartre hinab, an den großen Boulevards vorbei über den Boulevard d’Opéra und über die Seine zum Panthéon oder Luxembourg fährt, sagen, daß man eigentlich schon alles gesehen hat. Nie hat man hier auf einmal die Essenz, nicht in London, nicht im Hydepark. Nach und nach muß man sich an die Dimensionen und die entlegene Fülle gewöhnen, wie Gulliver in der Riesen Land an die ungefüge Größe. Er gibt zu viel an alle und an den einzelnen zu wenig.
    Und vor allem: der Hydepark gibt eigentlich nichts, man muß ihm alles bringen. Er ist kein Park, wo Träume aufwachen und in den Hecken unvergeßliche Erinnerungen wie geheimnisvolle Prinzessinnen warten. Kein Dichter hat ihn, glaube ich, je besungen, denn keinem hat er mit all seiner Fülle etwas gegeben. Er ist nicht wie jene kleinen Parke, in denen sich jede Stunde unvergeßlich in das Buch der Erinnerungen einschreibt, nicht wie jener schmucke Park Monceau, den die Pariser so gern den »parc des amoureux« nennen, wo die weißen Statuetten

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